Liebesduett auf Distanz

Zum ersten Mal «Tosca»: Sir Simon Rattle eröffnet die Osterfestspiele Baden-Baden mit einer Oper, die er bisher noch nie dirigiert hat.

Thomas Schacher
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Schrecken im Gesicht: Tosca (Kristīne Opolais) ist Scarpia (Evgeny Nikitin) schutzlos ausgeliefert. (Bild: PD)

Schrecken im Gesicht: Tosca (Kristīne Opolais) ist Scarpia (Evgeny Nikitin) schutzlos ausgeliefert. (Bild: PD)

Bei der Premierenfeier ist der Maestro in blendender Stimmung und strahlt in alle Handy-Kameras. Er hat tatsächlich gut lachen: Zusammen mit den Berliner Philharmonikern richtet Simon Rattle bereits zum fünften Mal die 2013 neugegründeten Osterfestspiele in Baden-Baden aus. Die Hauptattraktion des diesjährigen Programms bildet eine Neuinszenierung von Giacomo Puccinis Melodramma «Tosca». Damit ist das Festspielhaus Baden-Baden nicht nur der einzige Ort auf der Welt, wo das berühmte Orchester im Graben sitzt, sondern Rattle nutzt hier auch die Gelegenheit, zum ersten Mal in seinem Leben «Tosca» zu dirigieren. Das Debüt – das sei vorweggenommen – ist gelungen.

Ein bisschen realistisch, ein bisschen symbolisch

Höchst rätselhaft nimmt sich dagegen der Deutungsversuch des Regisseurs Philipp Himmelmann aus, falls man überhaupt von einer Deutung sprechen kann. Da ist zum Ersten die Unentschiedenheit zwischen realistischer und symbolhafter Darstellung. Ganz konventionell zeigt das von Raimund Bauer entworfene Bühnenbild im ersten Akt das Innere einer Kirche, die in Rom stehen könnte. Den Maler Cavaradossi steckt Kathi Maurer in ein zweckmässiges Arbeitsgewand, den Mesner charakterisiert sie als Gehilfen mit weisser Schürze.

Im zweiten Akt sehen wir dann aber nicht den von Puccini vorgesehenen Palazzo Farnese, sondern eine technisch aufgerüstete, in Schwarz und Silber gehaltene Machtzentrale, in der das Scheusal Scarpia sein Unwesen treibt. Der dritte Akt schliesslich spielt, noch minimalistischer, auf dem Proszenium vor einem Gitter. Die Engelsburg ist nirgends zu entdecken.

Nur ein Lüstling

Die politische Dimension der Oper böte etliche Ansätze für die Regie. Es kämpfen ja die republikanischen Kräfte, verkörpert durch den politischen Gefangenen Angelotti und seinen Sympathisanten Cavaradossi, gegen die reaktionären, restaurativen Kräfte des Polizeichefs Scarpia. Doch Scarpia ist in dieser Inszenierung keine politische Figur, sondern ein Lüstling, der es auf die attraktive Sängerin Tosca abgesehen hat. Künstlerdrama? Auch dieser Ansatz wird im Keim erstickt. Im ersten Akt erweckt Cavaradossi Toscas Eifersucht, indem er für sein Madonnenbild, das er in der Kirche malt, nicht seine Geliebte, sondern die Schwester Angelottis zum Vorbild nimmt. In der Folge spielt dann die Künstlerpaarthematik keine Rolle mehr.

Bleibt also die psychologische Ebene, die Dreiecksgeschichte zwischen dem Maler, der Sängerin und dem Polizeichef. Während die Regie im zweiten Akt Scarpias Psychoterror und Toscas verzweifelte Abwehr eindringlich aufzeigt, verschenkt sie im Kerkerakt alles, was im Zuschauer Rührung erzeugen könnte. Beim grossen Liebesduett stehen Tosca und Cavaradossi meterweit voneinander entfernt. Und als Tosca realisiert, dass der Maler tatsächlich, nicht nur zum Schein, erschossen wurde, darf sie sich nicht auf ihn werfen, um ihre Verzweiflung sichtbar zu machen. Stattdessen breitet sie, wie eine Siegerin, die Hände aus und blickt triumphierend auf ein kurz eingeblendetes Video an der Gitterwand, dessen Bedeutung jedoch nicht verständlich ist.

Hat Tosca gesiegt? Nein. Im nächsten Augenblick erschiesst sie sich mit demselben Bolzen, mit dem vorher Cavaradossi hingerichtet wurde. Prinzipiell bringen die Videos von Martin Eidenberger allerdings eine interessante Deutungsebene ins Spiel. Wenn Cavaradossi im zweiten Akt offstage, aber für Tosca hörbar gefoltert wird, nimmt Scarpia ihr Entsetzen mit einer Kamera auf. Das schreckerfüllte Gesicht Toscas wirkt dann auf der stark vergrösserten Projektion noch viel eindringlicher. Und der Lüstling entpuppt sich auch als ein perverser Charakter.

Keine Stimme für Schurken

Womit wir bei den Sängerleistungen sind. Die Tosca von Kristīne Opolais ist keine Idealbesetzung, obwohl die lettische Sopranistin häufig Puccini-Rollen singt. Ihr Rollenspiel ist zwar durchaus facettenreich, aber ihrem Sopran fehlt der Schmelz des italienischen Belcanto. Dies fällt umso mehr auf, als ihr mit Marcelo ?lvarez ein Cavaradossi zur Seite steht, der bezüglich sängerischer Gestaltung keine Wünsche offenlässt. Der argentinische Tenor beherrscht das italienische Fach mit einer Selbstverständlichkeit, die restlos begeistert, und einer Wärme, die zu Herzen geht.

Eine ungünstige Wahl ist hingegen der Scarpia von Evgeny Nikitin. Der angenehm klingende Bariton des Russen würde sich für andere Rollen sehr gut eignen, aber für die Darstellung des gemeinen Schurken fehlen ihm die stimmlichen Mittel jenseits des kultivierten Singens. Von den kleineren Rollen sei noch der Spielbass Peter Rose erwähnt, der die Rolle des Mesners mit einem leicht pädophilen Zug versieht.

Dank Simon Rattles umsichtiger Steuerung, aber auch dank der hervorragenden Akustik des Festspielhauses mit seinen 2500 Zuschauerplätzen bleibt die Balance zwischen den vokalen und instrumentalen Kräften stets ausgewogen. Obwohl der Dirigent kein Puccini-Spezialist ist, zeigt er einen ausgeprägten Sinn für den Charakter dieser dem Verismo verpflichteten Oper. Die illustrierenden Elemente der Partitur, beispielsweise bei der Folterszene, zeichnet er mit der notwendigen Drastik, richtet sein Augenmerk aber auch auf die poetischen und komischen Elemente. So ergibt sich ein musikalisches Panorama, das in all seinen Gegensätzlichkeiten sehr überzeugend wirkt.