Der Gott und das Mädchen

Die Osterfestspiele Salzburg feiern ihr erstes halbes Jahrhundert mit einer Retro-Inszenierung von Wagners «Walküre» aus dem Geist ihres Gründers: Herbert von Karajan.

Christian Wildhagen, Salzburg
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«Nächtig zieht es von Norden heran» – Szene aus dem dritten Akt der «Walküre» an den Osterfestspielen Salzburg. (Bild: Forster / OFS)

«Nächtig zieht es von Norden heran» – Szene aus dem dritten Akt der «Walküre» an den Osterfestspielen Salzburg. (Bild: Forster / OFS)

Im Grunde seines Herzens wollte er bloss spielen. Gewaltige Apparate in Bewegung setzen, die neueste Technik ausprobieren, an allen Reglern gleichzeitig drehen – und natürlich Musik dabei machen: auf höchstem Niveau, für ein zahlungskräftiges Publikum, das ihn grenzenlos verehrte und das ihm die kostspielige Unternehmung bereitwillig finanzierte. Was für ein Filou, was für ein Gigant im Riesenreich der Kunst!

Als Herbert von Karajan 1967 die Salzburger Osterfestspiele gründete, war er längst der Über-Dirigent, der globale Sachwalter der Musik. Und hier, an seinem eigenen Festival, konnte er endlich bedingungslos schalten und walten. Es war denn auch angesichts dieser totalen Ausrichtung auf ihren Gründer ein grösseres Wunder, dass die Osterfestspiele den Tod Karajans im Jahr 1989 überstanden haben, von mancher Finanz- und Sinnkrise in der Folge nicht zu reden. Doch nun feiert dieser eigentümlichste Dinosaurier der internationalen Festival-Landschaft tatsächlich seinen fünfzigsten Geburtstag.

Sein eigener Regisseur

Viel verändert hat sich freilich auch nach 1989 nicht: Noch immer sind die Osterfestspiele an der Salzach das elitärste, teuerste und dabei am stärksten einer glorifizierten Vergangenheit verhaftete Festival – wohl nur noch in Bayreuth wirkt der Geist Wagners ähnlich beherrschend wie hier derjenige Karajans. In dieser Jubiläumssaison huldigt man dem Gründer geradezu exzessiv. Eine ganze Produktion hat man zu diesem Zweck aus der Versenkung geholt: jene historische Inszenierung von Wagners «Walküre», mit welcher der Meister einst sein erstes Osterfestival eröffnet hatte – schon damals, wie später regelmässig, in demonstrativer Personalunion als Dirigent und als Regisseur.

Was noch im 19. Jahrhundert, zu Wagners und Mahlers Zeiten, üblich war, wirkte indes schon 1967 ziemlich vorgestrig – hatte sich die Bühnenkunst doch andernorts längst aus jeder bloss dienenden Rolle der Musik gegenüber befreit und ein gleichberechtigtes «Musik-Theater» als ästhetisches Fernziel in den Blick genommen. Von solch umstürzlerischen Ideen war Karajans Regieführung zu keiner Zeit angekränkelt, er folgte in der Regel einem naturalistisch handfesten Darstellungsideal, das selbst unkritische Betrachter heute plan und reichlich eindimensional anmuten müsste. Zum Glück sind bei der Salzburger «Walküre» die originalen Regiebücher nicht mehr auffindbar, lediglich das Bühnenbild des langjährigen Ausstattungsleiters Günther Schneider-Siemssen war nach Entwürfen und Fotografien zu rekonstruieren. In diesem Rahmen sollte wiederum die Regisseurin Vera Nemirova, eine dezidierte Vertreterin zeitgenössischen Musiktheaters, ersatzweise für die szenische Wiederbelebung sorgen. Klingt verkopft – und wirkt im Ergebnis auch so.

Diese sogenannte «Re-Kreation» einer fünfzig Jahre alten Produktion bleibt nämlich ein Zwitter, ein ästhetisches Kompositum. Ganz anders als bei den drei unlängst in Lyon wiederaufgenommenen Inszenierungen von Heiner Müller, Ruth Berghaus und Klaus Michael Grüber wird hier in jedem Moment der historische Abstand spürbar, der diese Sichtweise von heutigen Lesarten trennt. Dies liegt in erster Linie an der – strenggenommen schon damals – fragwürdigen Wirkung von Schneider-Siemssens Bühnenaufbauten. Diese folgen einer Überwältigungsästhetik, die in ihrem Gigantismus ungute Assoziationen weckt, auch weil die zumindest erkennbaren Ansätze zu einer symbolisch-mythischen Überhöhung des biederen Bühnenrealismus (etwa durch den Einsatz von Licht und Rundhorizont-Projektionen) immer wieder durch die klobige Szenerie auf die Erde zurückgeholt werden.

Heldensippen in Powerpoint

Nemirova tut ihr Möglichstes, um wenigstens die dominierende Zentralperspektive ab und an zu durchbrechen, und lockert auch das in diesem Umfeld naheliegende Pathos permanenten Schreitens und weihevollen Herumstehens etwas auf. Im zweiten Akt nutzt sie die frappierende Ähnlichkeit zwischen Schneider-Siemssens kreisrundem Götter-Catwalk und der leitmotivischen Ring-Passarella ihrer eigenen Frankfurter Deutung der Tetralogie von 2011/12, einige Selbstzitate inbegriffen. Der Grundkurs in Sachen Götter- und Heldensippen, den Wotan mit Kreide während seines zentralen Monologs auf den Fussboden pinselt und der wie bei einer Powerpoint-Präsentation auf dem Rundhorizont verdoppelt wird, wirkt allerdings erschütternd naiv.

Dies ist eine generelle Crux der Regie: Wo immer sich Nemirova in bester Absicht bemüht, die Figuren zu vermenschlichen, gerät sie in Konflikt zur völlig ungebrochenen Vergrösserungs- und Überhöhungsoptik der Bühne. Nur an sehr wenigen Stellen intensiviert diese gutgemeinte Dialektik die theatralische Wirkung; etwa, wenn Nemirova im dritten Akt Brünnhilde völlig schutzlos zeigt und die gnadenlose Blossstellung als Frau verdeutlicht, die mit Wotans tückischer Dornröschen-Strafe verbunden ist. Freilich gibt es zu wenige dieser Momente. Eine wirkliche Durchdringung von Alt und Neu findet nicht statt, es bleibt bei einem Nebeneinander von unvereinbaren Zeiten und Stilen.

Grossartiges Ensemble

Folglich obliegt es wieder einmal der Musik, für eine höhere Stimmigkeit zu sorgen. Christian Thielemann, seit 2013 künstlerischer Leiter der Osterfestspiele, meistert diese Herausforderung mit der Dresdner Staatskapelle, als hätte er nur darauf gewartet, der verqueren Produktion gleich noch einen Kontrapunkt hinzuzufügen. In seiner rundum schlüssigen Interpretation vereinigen sich genaueste Partiturkenntnis, ein durch Bayreuther Erfahrungen über Jahre geschärfter Überblick über die riesigen musikdramatischen Entwicklungsbögen und eine einzigartige Sensibilität in der Begleitung der Sänger. Lange dürfte es keine Wagner-Aufführung mehr gegeben haben, in der jeder Ton derart ohne Forcieren hörbar und jedes Wort verständlich gesungen wurde.

Namentlich der Wotan von Vitalij Kowaljow bleibt in dieser Hinsicht in Erinnerung: ein echter Heldenbariton, akzentfrei aus dem Wort gestaltend, imposant in Statur wie Stimme. Anja Kampe wirkt daneben als Brünnhilde noch mädchenhafter, als ihr gereifter Sopran inzwischen klingt; noch ist sie keine echte Hochdramatische, weiss aber umso mehr in den lyrischen Passagen eigene, innige Akzente zu setzen. Wie Kampe und Kowaljow wünscht man Anja Harteros Gelegenheit, ihr Porträt der Sieglinde in Ruhe zu entwickeln. Bei ihrem Salzburger Rollendebüt beherrscht sie ihren Part zwar souverän, doch hört man jenes klangvolle Legato noch zu selten, das Harteros als Strauss-Sängerin auszeichnet.

Ungeachtet aller Detailkritik bilden die drei zusammen mit dem gestandenen Recken Peter Seiffert als Siegmund, dem intelligenten Hunding von Georg Zeppenfeld und der als Göttergattin Fricka überlegen argumentierenden Christa Meyer ein ungewöhnlich stimmiges Ensemble, in dem jede Figur vokal klar charakterisiert ist und doch mit den anderen harmoniert. Nicht zuletzt beeindrucken die acht Walküren weniger durch Lautstärke als durch die kontrollierte Gestaltung von Text und Ton. Im Gegensatz zur Bühne ist dies ein Wagner, der in die Zukunft weist.