Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Mechanik von Missbrauch und Macht

Folterkammer oder Badeanstalt? Opfer oder Täter? Yun-Jeong Lee und Oriane Pons.

In Venedig wurde die 57. Biennale eröffnet, und zeitgleich ging in der Vidmarhalle die letzte Opernpremiere der Spielzeit von Konzert Theater Bern über die Bühne. Ein hübscher Zufall, denn von der Biennale war Benjamin Brittens Oper «The Turn of the Screw» in Auftrag gegeben worden, sie wurde 1954 in Venedig uraufgeführt. Wie so oft sang damals Brittens Lebenspartner Peter Pears die männliche Hauptpartie, und wie so viele seiner Opern hat auch diese autobiografische Züge. Erstmals aber hat Britten hier Homosexualität, Pädophilie, Missbrauch und Macht so explizit thematisiert. Als Vorlage kam da die gleichnamige Novelle von Henry James gerade recht.

Auch in der Oper bleibt offen, was Wirklichkeit und was Einbildung ist; die Wahrheiten verschmelzen und geben dem Werk einen zusätzlichen Aktualitätsbezug. Britten schrieb nie Wohlfühlopern, keine aber schafft so viel Beklemmung wie die «Schraube». Der erstmals in Bern tätige Regisseur Maximilian von Mayenburg liest den Titel auch als eine Art Uhrwerk; es wird zu Beginn von der Gouvernante mit einem übergrossen Schlüssel aufgezogen. Von Variation zu Variation (das Stück ist bei aller Komplexität hochstrukturiert) läuft es unerbittlich aufs Ende zu. Die Partitur sieht ein nur dreizehnköpfiges Orchester mit knapp zwanzig Instrumenten vor, Kammermusik also, die jedoch in ihrem Farben- und Formenreichtum immer wieder überwältigt. Beim Dirigenten Jochem Hochstenbach ist dieses Klangwunder in besten Händen, er entlockt dem Orchester immer wieder magische Momente.

Kammerspiel auf Breitwand

Auf der weiten Vidmarbühne könnte eine Kammeroper problemlos scheitern. Der Ausstatter Frank Lichtenberg macht aus der Not eine Tugend und drittelt den breiten, von viktorianischen Wandlampen gegliederten Rundhorizont: links ein Alkoven mit theaterartigem Vorhang, in der Mitte ein Garagentor, rechts eine Schiebewand. Dahinter Zimmer, ein nebliger Teich und ein Raum zwischen Folterkammer und Badeanstalt. Die Mechanik der Türen greift das Uhrwerk auf und wächst zum Schluss auf Raumgrösse an. Das mag etwas explizit sein, wie auch Miles' Verschwinden unter dem Bischofsmantel in der Kirchenszene, fügt sich aber organisch in den Kontext einer brillant gedachten Produktion. Sie macht deutlich, wie alle scheinbaren Gegensätze ineinander übergehen: Opfer und Täter, Missbrauch und Macht, Wahn und Wirklichkeit. Das ist im Text angelegt, der Satz «Peter Quint – you devil!» lässt offen, ob Miles damit nun jenen oder aber die Gouvernante meint, die am Ende selber nicht weiss, ob sie nun das Richtige getan hat oder aber Schuld an allem hat. Hat nicht auch sie die Kinder missbraucht, weil sie deren Onkel gefallen wollte? Alle sind mehrdeutig; die tote Miss Jessel als Spiegelbild der Gouvernante, das gleich-ungleiche Geschwisterpaar, Miles zugleich als Alter Ego von Quint. Die Aufführung wird auch zur Leistungsschau des Opernensembles: Oriane Pons als zunehmend verunsicherte, stimmlich aber immer sicherere Gouvernante, Evgenia Grekova als schauerliche Wasserleiche Miss Jessel und Yun-Jeong Lee als kindlich-verspielte Flora singen exzellent. Ein bestechender Einfall ist es, die Haushälterin Mrs. Grose (einmal mehr souverän: Claude Eichenberger) als Blinde darzustellen. Das steht zwar teilweise im Widerspruch zum Text – aber man weiss ja auch bei den Sehenden nie, was sie wirklich sehen.

Die Sternstunde des Andries Cloete

Die Glanzlichter setzen jedoch die beiden Herren: Der erst zwölfjährige Elias Siodlaczek aus Calw gibt einen Miles, der keinen Vergleich scheuen muss. Er singt und spielt dieses rätselhafte Wesen an der Schwelle vom Kind zum Mann selbst-, stil- und höhensicher. Und dann der Tenor Andries Cloete: Das Faktotum des Ensembles gibt sozusagen die Summe seines bisherigen Schaffens an einem Abend. Den Peter Quint singt er schmeichelnd-bedrohlich, den Prolog deklamatorisch dezent. Er ist stummer Auftraggeber, Briefträger, Bischof und König Midas. Zu «Tom, Tom, the Piper's Son» wirbelt er akrobatisch über die Bühne und macht mit Halsband, Leine und Schweinemaske auch das Kinderlied zum Horrortrip. Eine Meisterleistung Cloetes. Und ein Opernabend der Extraklasse zum Ende dieser Saison.

Weitere Aufführungen bis 25. Juni