«Sie haben alle grossartige Musik!»

Laurence Cummings hat die Göttinger Händel-Festspiele seit 2011 neu positioniert, auch gegenüber der eifersüchtigen Konkurrenz in Karlsruhe und in Händels Geburtsstadt Halle.

Michael Stallknecht, Göttingen
Drucken
Jud Perry (Idelberto) und Sophie Rennert (Lotario) in «Lotario», einer Koproduktion mit dem Theater Bern. (Bild: Internationale Händel-Festspiele Göttingen)

Jud Perry (Idelberto) und Sophie Rennert (Lotario) in «Lotario», einer Koproduktion mit dem Theater Bern. (Bild: Internationale Händel-Festspiele Göttingen)

Der Beifall ist enthusiastisch, aber sehr wohl differenziert. Manche Sänger werden am Ende der Vorstellungen mit Bravorufen überschüttet, andere müssen sich mit Anstandsapplaus begnügen. Keine Frage: Das Publikum ist kenntnisreich bei den Internationalen Händel-Festspielen in Göttingen. In den Pausen hört man viel Englisch – die Zweitsprache Georg Friedrich Händels, der mit knapp dreissig nach London übersiedelte. Ein Schwerpunkt der Händel-Pflege ist gleichwohl Deutschland: Auf die Händel-Festspiele in Karlsruhe und in Göttingen folgen auch noch die in Händels Geburtsstadt Halle; sie beginnen an diesem Freitag.

Als die Göttinger Festspiele vor rund einhundert Jahren gegründet wurden, galt die Opera seria mit ihren strikten Konventionen noch als hoffnungslos überlebte Kunstform. Inzwischen stehen einige der Renner unter Händels Opern regelmässig – auch in Stadttheatern – auf dem Spielplan. In Göttingen begreift man das als Ansporn: «Wir können hier auch die Werke zeigen, die an anderen Orten nicht gezeigt werden», sagt Laurence Cummings, der seit 2011 künstlerischer Leiter der Göttinger Festspiele ist. Bis zum Jubiläumsjahr 2020 will man hier alle 42 Opern Händels mindestens ein Mal gezeigt haben.

Dabei ist auch Cummings klar, dass nicht alle Opern unter dramatischen Kriterien in der Gegenwart so wirksam sind wie «Alcina» oder «Giulio Cesare». «Aber sie haben alle grossartige Musik!», so schwärmt er. Im Jahr 2012 hatte Cummings an der Oper Zürich gemeinsam mit dem Regisseur Christoph Marthaler ein Pasticcio aus diesen Musiken sogar zu einem ganz neuen Stück zusammengestellt. In Göttingen dirigiert er in diesem Jahr «Lotario», eine Koproduktion mit dem Theater Bern, die dort 2019 zu sehen sein wird.

Irrsinnstöne, Wutkoloraturen

Der Stoff schildert eine Episode aus dem Leben Otto des Grossen. Doch weil Händel zuvor schon einen «Ottone» komponiert hatte, machte er aus Otto flugs einen Lothar: Vier volle Stunden lang kämpft dieser «Lotario» gegen den fiesen Widersacher Berengario (Berengar II.) um seine spätere Gattin Adelaide (Adelheid von Burgund), ohne dass die Handlung recht vom Fleck käme. Das Stück gehört zu Händels Misserfolgen, nach wenigen Vorstellungen ersetzte er es durch den schon damals beliebten «Giulio Cesare».

Dabei leisten Inszenierung und Dirigat in Göttingen das Beste, um dramaturgische Geschlossenheit zu suggerieren. Der Regisseur Carlos Wagner hält alle Figuren beständig in schlüssig motivierten Handlungen. Den Stoff hat er zwischen mehreren gestaffelten Bilderrahmen in eine Art Kunstmuseum verlegt, wo er vielleicht am besten aufgehoben ist.

Laurence Cummings sorgt mit dem Festspiel-Orchester Göttingen für einen engen Zusammenhalt von Rezitativen und Arien, womit er die drei Akte unter grosse musikdramatische Bögen bringt. Und die Mezzosopranistin Ursula Hesse von den Steinen, die sonst Partien von deutlich heftigerem dramatischem Kaliber singt, ist eine wirklich interessante Besetzung für Berengarios abgefeimte Gattin Matilde.

Doch wie sehr die Kunstform der Opera seria von hervorragenden Sängern abhängig ist, lernt man eigentlich erst bei der zweiten Premiere, dem in Göttingen bisher ebenfalls nie gezeigten «Lucio Cornelia Silla». Dabei ist das Stück auch diesmal nur halbszenisch zu sehen, also ohne Bühnenbilder. Aber die Sänger sind in historische Kostüme gekleidet und bedienen sich unter Anleitung der Barockspezialistin Margit Legler der historischen Gestik. Dies machen sie so grandios, dass sich die relativ konzise Handlung rund um das ausschweifende Liebesleben des römischen Diktators Sulla von selbst erzählt.

Der Countertenor Dmitry Sinkovsky gestaltet den Cäsarenwahn Sullas in Irrsinnstönen, die sich ebenso als rasende Wutkoloraturen ausgestalten können wie als gefährlich sich windende Piano-Linien. Mit Philipp Mathmann (Lepido) gesellt sich ihm ein zweiter, jugendlicherer Counter bei, der über einen anmutig geführten Sopran verfügt. Anna Dennis (Metella) zeigt einen hervorragend fokussierten Sopran mit freier Höhe, der ihr gleichermassen eine grosse dynamische Bandbreite erlaubt wie markant gestaltete Koloraturen.

Ganz nebenbei lernt man, wieso im Barock das Geschlecht des Sängers bei der Besetzung zweitrangig war. Aus der Altistin Helena Rasker macht das Kostüm nämlich einen optisch so perfekten Claudio, dass man angesichts ihrer dunkel und herb timbrierten Stimme zu Anfang tatsächlich zweimal hinhören muss. Wenn sie in der Arie «Con tromba guerriera» in prächtig durchschlagskräftigen Tönen mit der konzertierenden Barocktrompete wetteifert, ahnt man viel von der Macht der Stimme, die Händels Sänger über ihre Zuhörer ausübten.

Eine Entdeckung spielt Flöte

Die aufregendste Entdeckung dieser zweiten Premiere ist allerdings das Dirigat von Dorothee Oberlinger. Bis dato war Oberlinger vor allem als hervorragende Blockflötistin bekannt, und in einer Szene greift sie auch noch selbst zur Flöte. Aber auch als Dirigentin atmet sie grandios mit den Sängern und dynamisiert darüber zugleich den Orchesterpart. Nichts wirkt floskelhaft, für jede Arie findet Oberlinger eine eigene Klanglichkeit.

Mit dem von ihr gegründeten Ensemble 1700 arbeitet sie die Farbigkeit von Händels Instrumentation heraus, riskiert dabei auch ungewöhnliche Akzente. Den Basso Continuo verziert der Cembalist Sergio Ciomei in Improvisationen, an denen man sich kaum satt hören kann. Dass das Ensemble 1700 auch zu einem warmen, dichten Klang in der Lage ist, kommt den sehnsüchtigen Linien der langsamen Arien sehr zugute. Man würde sich freuen, Oberlinger bald auch an anderen Häusern als Dirigentin zu erleben.