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„Ariodante“ in Salzburg: Und die Weltzeituhr steht still

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Barock und Gegenwart, Ballett und Oper fließen wie selbstverständlich ineinander: Szene mit Cecilia Bartoli (4.v.li.) und Christophe Dumaux (2.v.re.).
Barock und Gegenwart, Ballett und Oper fließen wie selbstverständlich ineinander: Szene mit Cecilia Bartoli (4.v.li.) und Christophe Dumaux (2.v.re.). © Foto: Monika Rittershaus

Cecilia Bartoli als Conchita Wurst? Die vorab verbreiteten Fotos haben da auf die falsche Fährte geführt. Händels „Ariodante“ bei den Salzburger Pfingstfestspielen ist dank Regisseur Christof Loy eine intensive, detailreiche, großartige Studie über die Suche nach Identität.

Salzburg - Den Bach besingt er, das Gras, die Bäume – die Liebeshormone verrichten ganze Arbeit. Doch echte Kerle in glänzenden Rüstungen , die dachte man sich eigentlich anders. Vor allem dürften sie im Betrugsfall, wir sprechen immerhin von Ritterdramen, das Schwert gegen den Nebenbuhler zücken, alles herum- und an sich reißen und nicht frustriert von der Klippe springen. Ariodante ist eben absonderlich, auf vielerlei Arten. In Salzburg singt er nicht nur in Mezzolage, das hat Georg Friedrich Händel ja so vorgesehen, er trägt Bart zum weiten schwarzen Kleid, und am Ende ist das Gesicht blank: Cecilia Bartoli pur.

Einen Werbe-Scherz hat sie sich im Vorfeld ihrer Pfingstfestspiele erlaubt. Die Frau als Mann als Frau mit gepflegtem Gesichtshaar, natürlich dachte alle Welt bei diesen vorab verbreiteten Szenenbildern an Conchita Wurst, Österreichs Song-Contest-Siegerin von 2014. Die viereinhalbstündige Premiere im Haus für Mozart – man spielt fast jedes Sechzehntel inklusive Ballette – ist freilich genau das Gegenteil einer Transennummer. Dafür gibt es schließlich Christof Loy. Der fühlte sich nicht nur von Virginia Woolfs Roman „Orlando“ inspiriert (ein Mann verändert sich über Jahrhunderte hinweg zur Frau), diesem Regisseur sind simple Figurendeutungen schlicht zuwider.

Regie ist nicht mehr spürbar - der Idealfall von Theater

Auf dem weiten Feld der Operninszenierungen, wo es gerade Richtung ausstattungsverliebten Neobarock geht, ist Loy mutmaßlich noch der Einzige, der in sein Bühnenpersonal hineinkriecht. Ein Charakterausleuchter, dessen Analysen so genau, reflektiert und vieldimensional sind und die Solisten so beflügeln, dass Regie – der Idealfall von Theater – gar nicht mehr spürbar ist. Dieser eigentümliche Ariodante tritt aus einer fremden Dimension in eine Welt der Business-Höflinge in ihrem hohen klassizistischen, schmucklosen Raum (Bühne: Johannes Leiacker). Ein Vorfahre Lohengrins, dessen bloßes Da-Sein zum Lebenskatalysator der anderen wird. Transformation und Neuorientierung, Sinn- und Identitätssuche, das Verschieben der Persönlichkeitsbalance, all das liest Christof Loy aus Händels Mozart-nahem Drama heraus.

Nicht nur einen „neuen“, mit sich im Reinen lebenden Titelhelden verfolgt man am Ende. Auch Ginevra ist dank ihrer Seelennarben zur Erwachsenen geworden. Und so, wie das die großartige Kathryn Lewek nicht nur spielt, sondern mit jeder Faser erfühlt, wird erlebbar, wie an Loy-Abenden Gesang und Geste ineinandergreifen. Anfangs sind die Arien-Verzierungen noch hastig, fast atemlos überdreht. Später, im Augenblick von Ginevras größter Enttäuschung, riskiert Kathryn Lewek stockende, bestürzend echte Fahlfarbenkunst am Rande der Deklamation, bevor sich im Finale die Stimme beruhigt, an Festigkeit und Fülle gewinnt. Was für eine grandiose Studie. Übrigens auch bei den anderen: Sandrine Piau ist eine eher reif besetzte Dalinda, kein Kammerkätzchen auf der vokalen Schmalspur. Diese Frau, dem Intriganten Polinesso in erotischer Abhängigkeit verbunden, löst sich mit zunehmendem Begreifen allmählich aus der Fesselung. Bei Christophe Dumaux als Ariodantes Widersacher gibt es ebenfalls kein Schwarz-Weiß. Sein Polinesso, mit herb-metallischem Counter gesungen, ist vieles: zupackender Macho, großes Kind, eleganter Beau, Ränkeschmied und zugleich unendlich naiv. Fast genauso viel ließe sich über den Lurcanio von Norman Reinhardt erzählen, über den König (den Nathan Berg stimmlich im Grobkörnig-Ungefähren belässt), aber das ist ja das wunderbare „Problem“ von Loy-Inszenierungen: Ganz fassen, ganz begreifen lassen sich diese Detailwunder nur beim Anschauen.

Spätes Rollendebüt von Cecilia Bartoli

Auch Cecilia Bartoli hat sich bei ihrem späten Rollendebüt auf diese Entdeckungsreise eingelassen. Loy gestattet ihr in „Con l'ali di costanza“ eine herrlich beschwipste Nummer, bei der ihr Kehlkopf Achterbahn fährt. Dass der Star ohnehin eher herber Natur ist (auch stimmlich), wird für die Produktion ohne Denunzieren genutzt. Einen sogar für sie extremen Gefühlsraum schreitet die Bartoli hier aus. Ariodantes Lamento „Scherza infida“ macht sie zum herzangreifenden Mezzavoce-Aufschrei, irgendjemand muss in diesem Moment die Weltzeituhr angehalten haben.

Barockes und Gegenwart lässt Loy wie selbstverständlich ineinanderfließen. Mal ist das bloßes Zitat, mal Beschwörung vergangener Idylle, mal ironische Distanzierung, mal auch Albtraum – nicht nur in der Ästhetik, auch im fugenlosen Verschränken mit den von Andreas Heise choreografierten Ballettszenen. Totales Theater eben. Und dass die Bartoli auch den Orchestergraben mit Handverlesenem füllt, kommt der Produktion sehr zugute. Der anfangs strohige, trockene Klang der von ihr gegründeten Les Musiciens du Prince mag ein akustisches Phänomen sein. Doch diesen Instrumentalisten, dirigiert von Gianluca Capuano am Cembalo, liegt weniger am Ohrenschmeicheln. Auch Harsches, fast Geräuschhaftes hört man. Üppige, mit Extra-Schlagwerk aufgepeppte Tutti stehen neben wie entleerten Streicher-Passagen, bei denen die Kälte die Wände des Hauses und die Rücken der Gala-Gemeinde hinaufkriecht. Die feiert diese Salzburger Festspielgroßtat frenetisch: viereinhalb Stunden Premiere? Das waren gefühlt höchstens zwei.

Weitere Aufführungen: 16., 18., 22., 25. und 28. August; Telefon 0043/ 662/ 8045-500.

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