Wechselspiel aus Zärtlichkeit und Gewalt

Als Chefin der Salzburger Pfingstfestspiele entscheidet Cecilia Bartoli selber, welche Partien sie für sich auf den Spielplan setzt. Am Ende von Georg Friedrich Händels «Ariodante» steht Bartoli ganz als sie selbst, als der Star und die Frau, auf der Bühne.

Michael Stallknecht
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Weibliche Zurückverwandlung: Cecilia Bartoli in «Ariodante». (Bild: Monika Rittershaus)

Weibliche Zurückverwandlung: Cecilia Bartoli in «Ariodante». (Bild: Monika Rittershaus)

Hosenrollen gehören für Mezzosopranistinnen eigentlich zum Standardrepertoire. Doch Cecilia Bartoli ist wie in vielem anderem auch hier eigene Wege gegangen, hat den Männerrollen immer die selbstbestimmten Frauenfiguren vorgezogen. Als Chefin der Salzburger Pfingstfestspiele kann sie sowieso frei entscheiden, welche Partien sie für sich auf den Spielplan setzt. Für die Titelrolle von Georg Friedrich Händels «Ariodante» hat sie die Regel nun gebrochen – wenn auch nur für die Hälfte des Stücks. In schwerer mittelalterlicher Ritterrüstung betritt Bartoli zu Beginn die Bühne des Hauses für Mozart, um sich danach zunehmend in die Frau zurückzuverwandeln.

Der Regisseur Christof Loy hat sich für die Inszenierung von Virginia Woolfs Roman «Orlando» anregen lassen, in dem die Titelfigur über mehrere Jahrhunderte hinweg lebt und dabei das Geschlecht wechselt. Nachdem Ariodante einen Selbstmordversuch unternommen hat, kehrt er beziehungsweise sie mit Abendkleid, aber Bart und Schwert ins Leben zurück.

Eine gewisse optische Ähnlichkeit zur österreichischen Kunstfigur Conchita Wurst hatte im Vorfeld der Produktion für einiges Raunen gesorgt, schien aber denn doch nicht die eigentliche Intention der Regie zu sein. Am Ende jedenfalls steht Bartoli ganz als sie selbst, als der Star und die Frau, auf der Bühne.

Bestechend präzise auf die Musik abgestimmt

Der Verwandlungsprozess ist eine Steilvorlage zum Ausloten aller darstellerischen wie stimmlichen Facetten, die Bartoli grandios nutzt. Hinreissend komisch spielt sie zu Beginn die männlichen Überkompensationen eines seiner selbst unsicheren Mannes, wenn sie die Koloraturen der Bravourarie «Con l'ali di costanza» in das Taumeln und sogar den Schluckauf eines allzu schnell Betrunkenen verwandelt. Und ebenso abgrundtief traurig lotet sie später in «Scherza infida» oder «Cieca notte» die Tiefen einer Figur aus, der das Vertrauen in die Wirklichkeit abhandengekommen ist.

Dass die Realität von heute auf morgen brüchig werden kann, ist das Thema von Händels psychologischem Meisterwerk: Eine Intrige lässt Ariodante und seine Umgebung glauben, dass die geliebte Ginevra ihm untreu geworden ist. Nach (fiktivem) mittelalterlichem Recht wird Ginevra zum Tod verurteilt, wovor sie nur ein kämpfender Ritter in einem Gottesurteil bewahren kann. Schuldlos stürzen die Charaktere in ein Meer von Schuld, was bereits Shakespeare zur Bearbeitung desselben Stoffs in seiner Komödie «Viel Lärm um nichts» angeregt hatte.

Im Salzburger «Ariodante» verschwimmen die Zeitebenen, wenn das Bühnenbild von Johannes Leiacker und die Kostüme Ursula Renzenbrinks mittelalterliche und barocke Versatzstücke virtuos mit einer High Society der Gegenwart überblenden. Christof Loy aber arbeitet die Figuren mit einer psychologischen Genauigkeit aus, als inszeniere er tatsächlich einen Shakespeare.

Jede einzelne Geste in diesem vierstündigen Abend ist mit bestechender Präzision auf die Musik abgestimmt. Als eigentlicher Dämon im fragilen Wirklichkeitsgeflecht erweist sich dabei der Eros, der hier als archaische Kraft zurückkehrt. Etwa wenn die rein männlich besetzte Tanzgruppe Ginevra im Traum erst streichelt, um sie dann fast zu vergewaltigen (Choreografie: Andreas Heise).

In diesem Wechselspiel aus Zärtlichkeit und Gewalt besteht auch die Macht des Intriganten Polinesso, wie ihn der Countertenor Christophe Dumaux anlegt. Dass Dumaux über viel Durchschlagskraft auch in der Tiefe verfügt und gleichzeitig zu den sinnlichsten Koloraturen fähig ist, ermöglicht ihm stimmlich die Mischung aus viriler Aggression und einschmeichelnder Gefährlichkeit. Plausibel, dass ihm Dalinda hemmungslos verfällt und zur Handlangerin seiner Intrige wird. Sandrine Piau zeigt sie als regelrecht durchgeschüttelt von Koketterie und sexueller Hörigkeit, von Liebessehnsucht und hysterischer Geilheit.

Die eigentliche Entdeckung ist Kathryn Lewek

Ihr wiederum verfallen ist Lurcanio, der von Norman Reinhardt mit schönem Timbre gesungen wird. Man hört dem Tenor allerdings an, dass er sich normalerweise eher in der Oper des 19. Jahrhunderts bewegt als im barocken Koloraturengeflecht. Und auch der Bassbariton Nathan Berg als König hat hörbar an Koloraturfähigkeit eingebüsst, nachdem er in den letzten Jahren ins dramatische Fach gewechselt war.

Doch die eigentliche Entdeckung der Produktion ist Kathryn Lewek als Ginevra. Was die junge amerikanische Koloratursopranistin an Farben vor allem aus dem Piano heraus entfaltet, verschlägt den Atem. Es findet seinen Höhepunkt in der fast viertelstündigen Arie «Il mio crudel martoro», in der sie die ganze Palette vom feinsten Stimmfaden bis zu eindringlichsten Schwelltönen, von ganz fahlen Farben bis zu gleissender Intensität durchmisst. Lewek singt da mit vollem Risiko ganz aus dem Moment heraus, was einen berührenden Gegensatz zu den Intrigen und emotionalen Täuschungen im Stück bildet.

Im Graben spielen Les Musiciens du Prince, die Cecilia Bartoli erst im vergangenen Jahr in Monaco für ihre eigenen Produktionen gegründet hat. Dass sie vor allem zu Beginn ziemlich diffus klingen, mag auch der Akustik geschuldet sein. Das Dirigat von Gianluca Capuano treibt die Tempi hier noch recht rüde, wenn auch mit einigem hübsch hinzugefügtem Schlagwerk voran. Ab dem zweiten Akt geht Capuano differenzierter vor, bietet ein fast schon spröde ausgedünntes Klangbild. Dabei riskiert er teilweise eine Langsamkeit, die man sich von manch anderem Barockdirigenten wünschen würde.

Bis zur Wiederaufnahme der Produktion bei den Salzburger Sommerfestspielen muss sich dieses Dirigat wohl konzeptionell noch festigen. Es kann aber auch so einen Abend nicht trüben, an dem ein grossartiges Sängerensemble gemeinsam mit dem Regisseur zu einer selten erlebten psychologischen Intensität gefunden hat.