Mit Schreibmaschinen bannt man Zauberinnen

Als hintersinnige Kollision zweier Welten hat Lydia Steier in Basel Händels Barockoper inszeniert. Das Orchester unter Andrea Marcon steuert seinen Teil zu einem wahrhaft magischen Abend bei.

Martina Wohlthat
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Auf Alcinas Zauberinsel geht es hoch her – da wendet sich der graue Gast mit Grausen. (Bild: Priska Ketterer)

Auf Alcinas Zauberinsel geht es hoch her – da wendet sich der graue Gast mit Grausen. (Bild: Priska Ketterer)

Ein Löwe, der Pfeife raucht, Tiermenschen in Röcken aus Glasperlen, eine Nixe, die ihren glitzernden Fischschwanz wie eine Handtasche über dem Arm trägt – das mutet seltsam an. Prinzessin Bradamante landet auf der Suche nach ihrem abtrünnigen Verlobten Ruggiero an diesen fernen Gestaden und traut ihren Augen nicht. Was für eine verkehrte Welt! Sie will den Wildwuchs begradigen, rasch wieder Normalität herstellen – und das führt nicht unbedingt zum Guten.

Die Grundidee der «Alcina» ist einigermassen schlicht: Eine Zauberin lockt Männer auf ihre Insel, verführt sie und verwandelt sie, sobald sie ihrer überdrüssig ist, in Tiere, Felsen und Bäume. Mit dieser Handlung nach Motiven aus Ariosts «Orlando furioso» könnte sich eine Aufführung begnügen, doch Lydia Steier hat mit Händels 1735 entstandener Opera seria anderes im Sinn. Denn das Zaubern ist für die Regisseurin zugleich ein Privileg des Theaters, das uns in ihrer neuen Inszenierung am Theater Basel mittels reizvoller Kostüme und berauschender Musik in eine farbenfrohe Gegenwelt versetzt. Das entwickelt verführerische Kraft – als Zuschauer fühlt man sich bald schon reif für die Insel.

Zweierlei Liebe

Genau so ergeht es auf der Bühne dem Ritter Ruggiero, der von der glamourösen Alcina (Nicole Heaston) derart in erotische Fesseln gelegt wird, dass er alles um sich herum vergisst. In der Darstellung des Countertenors Valer Sabadus ist er ein weichherziger, schmachtender Typ, der in der Liebe bereitwillig Vergessen sucht und sich nur widerwillig aus Alcinas Umarmung löst, als seine Verlobte Bradamante als Mann verkleidet und damit als vermeintlicher Nebenbuhler in den paradiesischen Gefilden auftaucht. Bradamante und ihr listiger Begleiter Melisso kommen aus einer Welt, in der Gefühle als Belohnung für Disziplin und Fleiss eingesetzt werden.

In der Oper prallen damit zwei unterschiedliche Liebeskonzepte aufeinander: die sinnenfrohe, verantwortungslose Liebe Alcinas und die von moralischer Konvention geprägte Forderung Bradamantes (Katarina Bradic), die sich im Verlauf des Abends zur Gegenspielerin mit gouvernantenhaft strengem Charme mausert. In ihrer Welt beruht der Erfolg auf Verdrängung und Triebverzicht. Kein Wunder, dass Ruggiero sich erst wieder an sein früheres Leben mit Bradamante erinnern mag, als er eine teure Markenuhr am Handgelenk trägt.

Das Reich der Sinnenfreuden wird in der ersten Hälfte des Abends als üppige Gesangs-Show in exotischem Dekor inszeniert (Bühnenbild: Flurin Borg Madsen). Es gibt reichlich Bananen für alle, Alcinas Feldherr Oronte (Nathan Haller) legt eine flotte Stepptanz-Einlage im Indianerkostüm hin, die Tiermenschen wippen dazu im Takt. Wenn einer von ihnen auf dem Altar der Liebe geopfert wird und Alcinas Schwester Morgana (Bryony Dwyer) danach galant das noch warme Herz als Liebesgabe verschenkt, schaudert es uns doch ein wenig vor diesen vergnügungssüchtigen «Wilden».

Grauer Zwirn statt bunter Lust

Nach der Pause kehrt die Regisseurin den Spiess um: Die Verwandlung des Bühnenbildes von den nackten Felsen des sinnenfrohen Eilands zur nüchternen Bürolandschaft lässt bereits nichts Gutes ahnen. Die Befreiung Ruggieros und seiner Leidensgefährten bedeutet kein Happy End, sondern herben Verlust und Reue. Ruggiero kehrt aus Alcinas Palast zu seiner kühlen Braut zurück.

Geschieht ihm recht, möchte man sagen. Denn nun wird nicht mehr geküsst und gefeiert, sondern den lieben, langen Tag pflichtbewusst in einem Schreibbüro geackert, wo selbst Kinderarbeit kein Tabu ist. Der Knabe Oberto, auf Alcinas Insel auf der Suche nach seinem löwenköpfigen, pfeifenrauchenden Vater, muss sich wie die anderen Gefangenen die finale Erlösung mit stupider Büroarbeit verdienen.

Den emotionalen Höhepunkt des Abends bildet Alcinas Arie «Ah, mio cor!», die die Zauberin im Konflikt zwischen Rachedurst und Liebesbereitschaft zeigt. Die amerikanische Sopranistin Nicole Heaston, die wegen einer kurzfristigen Besetzungsänderung in der Titelpartie einspringen musste, entwickelt hier mühelos stimmliche Strahlkraft und Fülle und steht die anspruchsvolle Partie der Alcina insgesamt glänzend durch. Ihr Untergang wirkt indes etwas prosaisch: Begleitet von der mechanischen Schreibmaschinenmusik der Bürolisten, verblasst ihre Gestalt auf der Bühne auf tragische Weise – sie wird bedeutungslos und sitzt wie ein Häuflein Elend am Schreibpult.

Dafür macht sich Betriebsamkeit à la Bradamante breit, gewinnt der graue Zwirn der Businessclass gegenüber den aparten Phantasiekostümen (Gianluca Falaschi) immer mehr die Oberhand. Unter Bradamantes strengem Blick bricht Ruggiero den Bann der Zauberin. Die lustvolle Zauberwelt und mit ihr die Kunst verschwinden im Orkus, Alcinas Liebhaber erhalten ihre menschliche Gestalt zurück – wofür, mag man fragen, wo doch nun alle grau und gleich aussehen. Angesichts dieser Entzauberung beschleicht einen als Zuschauer doch leise Wehmut.

Der wahre Magier

Das liegt vor allem an dem nicht nachlassenden Zauber von Händels Musik. Wenige Barockopern können es aufnehmen mit der Fülle und dem emotionalen Tiefgang dieser Partitur, die beim La Cetra Barockorchester Basel in sensiblen, kundigen Händen ist. Unter der Leitung des Dirigenten Andrea Marcon findet das auf historische Aufführung spezialisierte Ensemble zu mitreissend flüssigem und differenziertem Spiel.

Damit ist Marcon der wahre Magier dieses Abends, der für jede Situation und jeden Affekt immer neue orchestrale Farben aus seinem Klangkörper hervorlockt. Die Bläser und Streicher bringen Händels eingängige Melodien zu facettenreicher Wirkung. Die Basso-continuo-Gruppe mit den zwei Basslauten begleitet die Rezitative hingebungsvoll. Brillante Gesangsnummern wie Ruggieros «Mi lusinga il dolce affetto» werden zum wahrhaft bezaubernden Ohrenschmaus. Der Countertenor Valer Sabadus verziert hier so geschmeidig und ideenreich, dass man sich gerne für immer in diesen Bann schlagen liesse.