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Die Irren und die Schläger von Petersburg

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Ein Kuss ist noch keine Liebe. German und Lisa, Erin Caves und Rebecca von Lipinski.
Ein Kuss ist noch keine Liebe. German und Lisa, Erin Caves und Rebecca von Lipinski. © A. T. Schaefer

Tschaikowskis Oper „Pique Dame“ pflegt in Stuttgart einen eher nüchternen Geisterglauben.

M it Vehemenz und Konsequenz dreht die Oper Stuttgart die Uhr 200 Jahre nach vorne. Nicht im ausgehenden 18. Jahrhundert spielt Peter Tschaikowskis Oper „Pique Dame“, sondern im Russland der Nachwendezeit. Im Programmheft kann man nachlesen, dass das Inszenierungsteam um den Intendanten Jossi Wiehler und seinen Dramaturgen Sergio Morabito eigens nach St. Petersburg gereist ist, um sich umzutun. Bühnenbildnerin Anna Viebrock brachte Ornamente mit nach Hause, Ideen für Hintertreppen-Labyrinthe und überhaupt jene merkwürdig dauerhaften Provisorien in halbsanierten (halbgefertigten) Wohnsituationen, die einem erfahrungsgemäß nach einiger Zeit nicht mehr auffallen. Am Frappierendsten ist zweifellos das Gefährt, in dem die unheimliche alte Gräfin unterwegs ist, wie von Geisterhand geführt den schmalsten Durchschlupf passierend. Was Dilettanten vielleicht zunächst für einen Beichtstuhl halten, ist tatsächlich der Windfang des Palastes der Gräfin Golyzina, die „Pique Dame“-Autor Alexander Puschkin als ein Vorbild für seine Figur nahm. Ein Windfang ist ein perfektes Vehikel für geisterhafte Erscheinungen, wenn man sich erst einmal darauf eingestellt hat.

Das Stuttgarter St. Petersburg, es ist überhaupt eine einzige Transitzone. Das Personal ist hier steckengeblieben, hat sich eingerichtet in unbehaglichen Zwischenräumen. Das erfordert Beweglichkeit und Elastizität – und wenn es nur der Kinderchor ist, der durch Katzenklappen auf die Bühne gesteckt wird –, aber letztlich führt es nirgendwo hin. Die steile Häuserschachtel ist drehbar, aber ein Innenraum (gar Fest- und Spielsaal) öffnet sich auf keiner Seite. Das Kartenspiel des Schicksals ist auch wieder bloß eine improvisierte Runde auf der Straße. Bierdosen stehen auf Paletten bereit.

Auch den Schwenk zu einer anderen Gesellschaftsschicht erwartet man instinktiv, aber vergebens. Vertreten sind die besseren Kreise allein durch Shigeo Ishinos sonoren Jeletzki, den einzigen Gentleman im Anzug. Alle anderen sind moderne Dostojewski-Figuren: Raufbrüder (die oft auf jene Art gepflegt brutal zuschlagen, wie nur Opernsänger das machen können, die keiner Fliege etwas zuleide tun möchten) und Pennerinnen. Äußerlich und innerlich zerrissene Vorübergehende (indem sie tatsächlich gehen, indem sie improvisieren, indem sie noch so jung und schon so erledigt wirken), Ausgeburten anstrengender Zeiten und des Bühnenbildes. Viebrocks Kostüme signalisieren keine grelle Armutswelt, aber die Stammbelegschaft an Frankfurts verbliebenen Wasserhäuschen darf einem in den Sinn kommen.

Flirrend gelingt das bei der alten Gräfin, die beim mystisch anmutenden Auftritt mit engelhaftem Frauenchor erst im Windfang vorübersegelt, bei der Rückkehr dann unverträumter mit einem von Habseligkeiten überladenen Einkaufswagen. Helene Schneiderman räkelt sich geradezu in der Rolle der teils verkommenen, teils verstörten, dazu immer noch reizvollen alten Dame. Unter die Räder des Konzept geraten hingegen German und seine Lisa, für deren höchste privaten Qualen das ins Allgemeine schweifende Regiekonzept sich nicht im Detail interessieren kann. Erin Caves huscht mit dunkler Kapuzenjacke und kleinem, gewiss scharfem (Teppich?-)Messer umher. Rebecca von Lipinski irrt im schmucken Katzenfotomini und nurmehr innerlich die Hände ringend von Szene zu Szene.

Aber ihr Schicksal lässt an diesem Abend kühl wie ihre den Rollen ohne weiteres gewachsenen Stimmen – Caves’ Tenor hat ja Strahlkraft und Sensibilität, Lipinskis Sopran Sinn für das Delikate in Lisas ganz ungedeihlichem Zwischen-den-Männern-und-Lebensentwürfen-Hängen –, die trotzdem etwas blass bleiben. Dass es nicht um Liebe, sondern um Wahn geht: Wiehler und Morabito lassen keine Restzweifel und der Süße der Musik Luft zum Atmen fast nur, wenn der grandiose Chor an der Reihe ist. Sylvain Cambreling dirigiert einen schimmernden Tschaikowski, der Chor glitzert mit. Szenisch ist aber auch dann klar, dass die prächtigen Zeiten vorbei sind, Fürsten und die Zarin selbst sind Spottnamen, im Falle der letzteren gockelt eine durchtrainierte Frau im Bikini durch die fröhlich jubelnde Menge.

Stuttgarts „Pique Dame“ ist keine aufdringliche Ernüchterung, aber eine Ernüchterung, die inhaltlich interessanterweise nicht wirklich einen Ertrag bringt. Am Ende aber ungebrochener Beifall für alle Beteiligten.

Oper Stuttgart: 14., 24., 27. Juni, 1., 6.,
24. Juli. www.staatstheater-stuttgart.de

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