In der Premiere von „Boris Godunow“ an der Deutschen Oper Berlin überzeugt der estnische Bass Ain Anger in der Hauptrolle. Das Bühnenbild bleibt eher abstrakt

Es gäbe heute triftige Gründe, Modest Mussorgskijs Oper „Boris Godunow“ aufzuführen – triftigere Gründe, als sie an der Deutschen Oper sinnfällig werden. Die Inszenierung stammt von Richard Jones, es handelt sich um eine Übernahme aus dem Royal Opera House Covent Garden in London. Damals sang der estnische Bass Ain Anger die Rolle des Mönchs und Russland-Chronisten Pimen, während Anger nun mit Wucht, prägnanter Schlankheit und hohem darstellerischen Engagement in der Titelpartie zu hören ist.

Die Partie des Pimen wird mit zugleich machtvoller und weich timbrierter Stimme von Ante Jerkunica gesungen, einem Juwel in den Ensemblereihen der Deutschen Oper. Man hat für den „Boris“, diese ausgesprochene Männeroper, auch sonst beste Kräfte des Ensembles eingesetzt: Robert Watson, Stipendiat aus dem Förderkreis des Hauses, fällt mit sehr rundem, aber auch dramatischen Tenor als widerständiger Mönch Grigorij Otrepjew auf, Matthew Newlin erhält viel Beifall als tenoraler Gottesnarr. Der junge Philipp Ammer von der Chorakademie Dortmund als kleiner Boris-Sohn Fjodor dürfte, über den Graben des großen Orchesters hinweg bestens verständlich, gute Chancen auf eine gesangliche Karriere haben. Ain Anger als Boris hat den unbedingten Willen, den Herrscher über das russische Riesenreich mit aller Hochfahrenheit und Verzweiflung in der selbst geschaffenen Kälte seines Umfelds darzustellen.

Das allein wäre schon ein Grund, „Boris Godunow“ in unseren Tagen aufzuführen. Ain Anger wird allerdings nicht sonderlich unterstützt. Er sieht im Gewand der Kostümbildnerin Nicky Gillibrand sowie durch die Maske der opernhaften Bass-Männlichkeit fast genauso aus wie sein Kollege Iwan Melnikow bei der Uraufführung im Petersburger Mariinsky-Theater anno 1874.

Wie eine Inszenierung am Bolschoi-Theater um 1900

Ähnliche Assoziationen erweckt die übrige Personage: Die russische Kleinadels-Kaste der Bojaren, angeführt von dem stimmlich gut disponierten Burkhard Ulrich als Fürst Wassili Schuiskij, wecken mit ihrem enorm künstlichen Theater-Haar den Eindruck, sie seien einer Moskauer Bolschoi-Inszenierung aus dem Jahr 1900 entsprungen. In Kombination mit einem eher abstrakten Bühnenbild kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob diese muffige Ausstattung der Figuren eine postmoderne Spielerei ist oder ob Muffigkeit schon wieder zum guten Ton gehört.

Leider kann ein Opus Magnum wie „Boris Godunow“ aber brisante aktuelle Bezüge aufweisen. Handelt Puschkins und Mussorgskijs grandioses Zeit- und Sittenbild des russischen 16. Jahrhunderts nicht neben dem Psychogramm eines schuldbeladenen Usurpators im Kreml von einer Volksmenge, die trotz Unzufriedenheit mit den Herrschenden unfähig ist, aus nationalistischen und patriarchalen Denkmustern auszubrechen und souverän mitzubestimmen? Haben wir letzte Genauigkeit über die Auftraggeber des Kindsmords am Zarewitsch – jenes Mordes, der Boris Godunow an die Macht bringt? Wir werden am Ende nicht mehr davon wissen als von den Auftraggebern der jüngsten Morde an russischen Oppositionellen. Diese brutale Indirektheit der Mittel, mit denen politische Macht in Russland auch heute gesichert wird, haben Puschkin und Mussorgskij uns einst vorgeführt.

Die Fingerzeige des unbestrittenen Meisterregisseurs Richard Jones auf solche Verhältnisse sind wiederum viel zu indirekt. Die bedrückend anonyme Atmosphäre im inneren Zirkel der Macht wird in der kalt-seriellen Ausstattung der Bühne sinnfällig, das ist gut gemacht. Die Bilder der verflossenen Zaren fahren gleichgültig in Reihe über die Bühne, ebenso die Ikonenbilder der orthodoxen Kirche. Im oberen Geschoss wird buchstäblich im Vorbeigehen der Kindsmord am Prinzen Dmitri gezeigt, als seien solche Vorgänge im Kreml ein Morgenritual.

Die kreativ-moderne Ausdeutung eines anderen, für Mussorgkijs Musiktheater schlüsselhaften Rituals bleibt in Ansätzen stecken: Die Glocken prangen in Serie an den eisernen Wänden des Herrscherpalasts, dabei sind sie es, die sich Boris gerade nicht unterwerfen. Die Chöre aus dem Off künden zum Glockenklang nicht von der Macht eines Einzelnen, sondern vom letzten Sinn und der Gottgewolltheit eines seinem Volk dienenden Zaren.

Ein deutliches Gefälle zwischen Chor und Orchester

Wenn die Chöre indes in den Vordergrund treten, dann erfahren wir den Qualitätsabfall im Chor der Deutschen Oper unter der Leitung von Raymond Hughes – ein Chor, der vor einigen Jahren mit dem Kritiker-Prädikat „Opernchor des Jahres“ bedacht wurde. Es besteht ein deutliches Gefälle zum Orchester. Dieses beatmet unter der Leitung des Ukrainers Kirill Karabits Mussorgskijs Drama so vielfältig und inspiriert und färbt seinen Klang so samtig, dass die Statik des oft staatstragenden Geschehens gar nicht auffällt. Auf dieser musikalischen Ebene immerhin ist der Londoner „Boris Godunow“ in Berlin eine Glanzleistung.

Deutsche Oper Berlin, Bismarckstraße 35, 23.06., 27.06., 01.07., 04.07.