Aus der Zeit gefallen

Die Scala belebt Giorgio Strehlers legendäre Inszenierung von Mozarts «Entführung aus dem Serail». Sie schwimmt damit auf der derzeitigen Retro-Welle, doch was hat uns die Produktion noch zu sagen?

Michael Stallknecht, Mailand
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Die Sehnsucht der gefangenen Europäer nach der Heimat: Giorgio Strehlers Sicht auf «Die Entführung aus dem Serail» an der Scala. (Bild: Teatro alla Scala)

Die Sehnsucht der gefangenen Europäer nach der Heimat: Giorgio Strehlers Sicht auf «Die Entführung aus dem Serail» an der Scala. (Bild: Teatro alla Scala)

Als der Tenor Mauro Peter in der ersten Szene die Bühne der Mailänder Scala betritt, bleiben Gesicht und Körper im Dunkeln. Befinden sich die Beleuchter etwa wieder einmal im Streik? Nein, der Regisseur Giorgio Strehler wollte es so für seine Inszenierung von Mozarts «Entführung aus dem Serail»: In den Arien und Ensembles sollten die Sänger nur als Silhouetten vor dem sanftblau leuchtenden Bühnenhintergrund sichtbar sein – in Anlehnung an die zur Entstehungszeit des Singspiels gängige Kunstform des Scherenschnitts.

Zum zwanzigsten Todestag des nicht nur für Italien stilprägenden Regisseurs hat die Scala Strehlers längst legendäre Inszenierung von Mattia Testi, einem engen Mitarbeiter, neu auf die Bühne bringen lassen. Premiere hatte die Produktion ursprünglich 1965 bei den Salzburger Festspielen, 1972 hat sie Strehler für Mailand adaptiert. Am Pult der jetzigen Reprise steht der inzwischen 81 Jahre alte Zubin Mehta – er hatte schon 1965 die Premiere in Salzburg dirigiert.

Trend zu Retro-Inszenierungen

Das wichtigste italienische Opernhaus reiht sich damit ein in einen Reigen von Retro-Inszenierungen, die man schon als einen aktuellen Trend begreifen kann. Erst vor kurzem hat beispielsweise das Nationaltheater Prag die Bayreuther Inszenierung des «Lohengrin» von Wolfgang Wagner aus dem Jahr 1967 durch dessen Tochter Katharina wiederbeleben lassen. An der Opéra de Lyon war im März gleich ein ganzes Festival drei noch immer frischen Inszenierungen von Ruth Berghaus, Heiner Müller und Klaus Michael Grüber gewidmet. Gewollt oder ungewollt erscheint die Zuflucht zu Theaterlegenden der Vergangenheit als Ausdruck einer Epoche, die in vielen Bereichen skeptischer gegenüber dem Fortschrittsglauben geworden ist, zumal in der Kunst.

Tatsächlich entsprach Strehlers Zugang noch kaum dem, was man heute unter «Regietheater» subsumiert. Dennoch ist seine Regie hier in enormem Masse formbestimmend tätig. Aber der Form, nicht dem Inhalt der «Entführung» gilt ihre Suche. Während gegenwärtige Regisseure oft den Inhalt eines Stücks mit der eigenen Erfahrungswelt abgleichen, versuchte Strehler vor allem die Leichtigkeit und die Komik in der Form des Singspiels unter der Staubschicht des Klassikers wiederzubeleben. Dazu unternahmen er und sein Bühnenbildner Luciano Damiani eine Recherche nach den Mitteln der Mozartschen Epoche, ja des Theaters überhaupt, deren Ernsthaftigkeit zweifellos vorbildlich bleibt.

«Man darf den Raum nicht dekorieren, man muss ihn strukturieren», lautete die Überzeugung des Bühnenbildners. Der dekorative Plunder mancher älterer Inszenierungen ist hier nicht zu sehen; stattdessen greift Damiani – seinerseits bereits retrospektiv – auf Theatermittel des 18. Jahrhunderts zurück, wenn er den Spielort durch gemalte Kulissen auf beiden Seiten der Bühne nur andeutet. Alles hier ist reine Theaterwirklichkeit, sichtbares Spiel (wie ein zweiter Portalrahmen unterhalb des grossen der Scala unterstreicht); vor dem blassblauen Lichthintergrund ziehen kleine Schiffsmodelle entlang, die wie Traumbilder aus dem Unterbewussten die Sehnsucht der von den Türken gefangenen Europäer nach der Heimat symbolisieren.

Strehler wollte die Märchenhaftigkeit wiederherstellen, die für die Zuschauer der Uraufführung den Reiz der damals beliebten «Türkenopern» ausgemacht haben muss. Den Gesichtern des Bassa Selim sowie seines Oberaufsehers Osmin ist sanft ein südländischer Teint aufgeschminkt, das Gewand des Bassa rasselt leise bei jedem seiner Schritte. Mit riesenhaftem Turban und clownesk grossen Pluderhosen kommt Osmin – so erläuterte Strehler selbst im Programmheft – wie der klassische Riese aus dem Märchen daher: ungeschlacht, doch leicht zu überlisten.

Die Inspiration dazu fand der Regisseur auch in Mitteln der Commedia dell'Arte, die den unbekümmerten Surrealismus und die Direktheit des italienischen Strassentheaters einbringen. Die Commedia lebt von der Kraft der (stilisierten) Geste, die von den psychologisierenden Darstellungsformen im 20. Jahrhundert zunehmend verdrängt worden war. Und exakt diese Gesten rückt Strehler in den Mittelpunkt, indem er die Sänger bei den Arien nur in der Silhouette zeigt.

Doch genau dieses konzeptionelle Mittel ist es, das in seinem Schematismus beim heutigen Sehen der Inszenierung bald absehbar und damit ermüdend wirkt. Ein Sänger, dessen Gesicht man nicht sehen kann, muss die gesamte Emotion in die Stimme legen können. Mauro Peter (Belmonte), Lenneke Ruiten (Konstanze), Sabine Devieilhe (Blonde), Maximilian Schmitt (Pedrillo) und Tobias Kehrer (Osmin) sind ein technisch blitzsauberes Mozart-Ensemble, aber ein besonders spannendes oder gar charismatisches sind sie nicht.

Kunst des erfüllten Augenblicks

Am Ende jedenfalls erntet diese mit Spannung erwartete Wiederaufnahme beim Publikum nur ziemlich matten Applaus. Angesichts der Debatte um die Sinnhaftigkeit solcher Rekonstruktionen ist das keine uninteressante Erkenntnis. Denn sie scheint nicht notwendig auf die Wiederbelebung aller älteren Meister-Inszenierungen zuzutreffen, wie der nahezu einhellige Erfolg der drei Reproduktionen in Lyon gezeigt hat.

Gut möglich, dass es am Inhalt der «Entführung» liegt, der sich in der Gegenwart tatsächlich nicht mehr derart umstandslos als Märchen erzählen lässt – ist doch die muslimische Welt, wie sie allabendlich per Fernsehen ins Wohnzimmer dringt, längst keine magische Fremde mehr.

Wahrscheinlicher – und für Strehler-Fans schmerzhafter – ist freilich, dass sich auch die Rezeption verändert hat, vor allem beim Timing, beim Tempo. Der Schauspieler Cornelius Obonya müht sich als Bassa Selim exakt darum, den schleppend melancholischen Duktus des Schauspielers Michael Heltau zu imitieren, wie man ihn auf der Aufnahme aus dem Jahr 1965 nachhören kann. Doch er kann diese Langsamkeit nicht mehr füllen, wirkt manieriert dabei. Die Dialoge verbreiten überhaupt eine neckische Gemächlichkeit.

Auch klanglich hat sich das Mozart-Bild seit 1965 durch die historische Aufführungspraxis umfassend verändert. Mehta zielt mit dem Orchester der Scala letztlich immer noch auf ein weich abgefedertes, auch sehr durchsichtiges Klangbild, das indes stets eine leichte Edel-Mattigkeit verströmt, weil es artikulatorisch und in der Phrasierung kaum Ecken und Kanten zeigt.

Die eigene Gegenwart

Fehlt am Ende vielleicht einfach die inspirierende Anwesenheit des ursprünglichen Regisseurs, immerhin einer Ikone des europäischen Theaters? Theater ist ja die gegenwärtige Kunstform schlechthin: eine Kunst des erfüllten Augenblicks. Das bedeutet nicht, dass alles auf einer Bühne ausschauen muss wie der Gegenwart entnommen. Aber es bedeutet, dass es von Künstlern der Gegenwart gefüllt werden (können) muss. Soll der Trend zur Rekonstruktion mehr sein als eine Mode, dann bedarf es auf jeden Fall der Sänger, Dirigenten und re-inszenierenden Regisseure, die sich mit ähnlicher Ernsthaftigkeit auf die Suche nach dem Geist der jeweiligen Inszenierung begeben, wie Strehler es hier selbst mit dem Geist des Singspiels getan hat – um sie vor dem Hintergrund der eigenen Gegenwart neu erfahrbar zu machen.