Loreley im Disneyland

Freilichtaufführungen folgen eigenen Gesetzen: Auf dem Klosterhof inszeniert David Alden Alfredo Catalanis Oper «Loreley» als Riesenspektakel, seine Deutung aber bleibt rätselhaft. Sensationelles vollbringt Ausrine Stundyte in der Titelrolle.

Thomas Schacher, St. Gallen
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Mörderische Puppen: Ausrine Stundyte als Loreley an den Festspielen in St. Gallen. (Bild: Toni Suter / T+T Fotografie)

Mörderische Puppen: Ausrine Stundyte als Loreley an den Festspielen in St. Gallen. (Bild: Toni Suter / T+T Fotografie)

Die stärkste Szene ereignet sich am Schluss des mittleren Akts. Die Trauung von Walter und Anna – er in Ritterrüstung, sie im hellblauen Brautkleid – steht unmittelbar bevor. Da taucht von hinten die von Walter verstossene Loreley auf. Sie breitet ihr blutrotes Gewand kreisförmig auf der Bühne aus, und wie durch einen Magneten wird darauf der Bräutigam von der Braut weg- und zu Loreley hingezogen.

Als Walter die im roten Kleidermeer versteckte Loreley umarmt, bricht Anna leblos zusammen und fällt von der Bühne. Die Hochzeitsgesellschaft gerät angesichts solcher Turbulenzen nachvollziehbar ausser Rand und Band. Und die Musik dreht in dieser Schlussszene mächtig auf, ganz im Geiste einer französischen Grand Opéra.

Männerbetörende Zauberin

Die St. Galler Festspiele haben für die diesjährige Opernproduktion auf dem Klosterhof das vergessene Stück «Loreley» des Italieners Alfredo Catalani ausgegraben. Die 1890 in Turin uraufgeführte Oper hielt sich nicht lange auf den Spielplänen – auch wegen des frühen Todes des Komponisten. Eine gewisse Renaissance setzte mit Arturo Toscanini ein, der sich für das Opus starkmachte, aber heutzutage fristet diese Oper ein eher kümmerliches Randdasein. Das Libretto von Carlo d'Ormeville und Angelo Zanardini basiert im Kern auf Clemens Brentanos bekannter Ballade von der männerbetörenden Zauberin Loreley.

Der amerikanische Regisseur David Alden versetzt das im Mittelalter angesiedelte Stück in einen Vergnügungspark von heute. Dazu hat Gideon Davey die grosse Freilichtbühne vor der Kathedrale St. Gallen entsprechend eingerichtet. Das im Hintergrund neben dem Loreley-Felsen emporragende Schloss sieht fast eins zu eins aus wie das entsprechende Gebäude im Disneyland Paris.

Auf der Bühne selber sind Achterbahnen, eine Geisterbahn, ein Karussell und mehrere Spielautomaten zu sehen. In dieser Scheinwelt sucht sich die Dreiecksgeschichte zwischen Loreley, Walter und Anna ihren Weg. Der Vierte im Bunde ist Walters Freund Hermann, der es auf Anna abgesehen hat.

Dabei zielt Alden nicht auf eine psychologische Deutung des Geschehens. Vielmehr ertrinken seine Protagonisten immer wieder in einem immensen Aufgebot von Nebenfiguren, die meist als Kollektiv auftreten. Chor, Statisten und Tanzkompanie bevölkern die Bühne als groteske Gruppierungen von linkischen Bürolisten, tapsigen Naturmenschen, herkunftslosen Zigeunerinnen, stereotyp winkenden Disneyfiguren oder einem bierschleppenden Kellner.

Kostümbildner Jon Morrell und die Choreografin Beate Vollack ziehen – zusammen mit dem Lichtregisseur Wolfgang Göbbel – alle Register, um die Aufmerksamkeit des Publikums unentwegt auf diese Vergnügungspark-Schiene zu lenken. Dies alles ist sehr unterhaltsam, bisweilen gar spektakulär, aber wozu dient das Ganze? Aldens «Deutung» reiht Rätsel an Rätsel, und wenn man – wie im Fall der Loreley-Doubles, die sich den Alberich-Doubles hingeben – für einmal etwas begriffen hat, ist man schon glücklich.

Zwischen Verdi und Puccini

Unter der sängerischen Premierenbesetzung ragt die Loreley der Litauerin Ausrine Stundyte als beeindruckendste Figur heraus. Wer sie jüngst in Zürich als Renata in Prokofjews «Der feurige Engel» gesehen hat, weiss, dass die Sopranistin viel mehr kann als nur schön singen. Wie sie die Titelfigur zuerst als in ihrer Liebe enttäuschte Frau, dann als berechnende Rächerin und schliesslich als von jeder Empathie befreite «Ausserirdische» spielt, ist grossartig.

Der Walter von Timothy Richards punktet mit einem variantenreichen Tenor und einem Charakter, der seine Zerrissenheit offenbart. Die Anna von Tatjana Schneider wäre für Walter durchaus eine Alternative, gibt sie doch die Braut alles andere als eindimensional. Und der Hermann von Giuseppe Altomare wandelt sich vom besorgten Freund Walters zum dämonischen Verfolger Annas. Von der Regie als läppische Figur eingesetzt ist Tomislav Lucic als Markgraf Rudolfo und Vater Annas.

Das von Stefan Blunier geleitete Sinfonieorchester St. Gallen spielt unsichtbar unter der Bühne und wird, ebenso wie die Sänger, über Mikrofone verstärkt. Bei der Instrumentalschicht stört dies überhaupt nicht, beim Gesang stiftet die Differenz zwischen den Schallquellen manchmal Irritationen bezüglich der räumlichen Orientierung.

Catalanis Musiksprache kann in ihrer Offenheit auch für deutsche und französische Elemente als ein eigenständiger Beitrag der italienischen Operngeschichte zwischen Verdi und Puccini angesehen werden. Die Partitur präsentiert sich sehr farbig und abwechslungsreich, was das Orchester effektvoll umsetzt. Allerdings ist mit dem Schluss des zweiten Aktes das Pulver weitgehend verschossen, und der dritte Akt fällt in seiner lyrischen Grundausprägung eindeutig ab. Ob dies für eine Rehabilitierung von Catalanis «Loreley» reicht, bleibt fragwürdig.