Der Klang des Anderen

Benjamin Brittens Musikfestival in Aldeburgh feiert sein siebzigjähriges Bestehen – doch der Brexit dürfte künftig manches erschweren.

Marco Frei, Aldeburgh
Drucken
Shakespeare veropert: Szene aus Benjamin Brittens «A Midsummer Night's Dream», inszeniert von Netia Jones. (Bild: Hugo Glendinning)

Shakespeare veropert: Szene aus Benjamin Brittens «A Midsummer Night's Dream», inszeniert von Netia Jones. (Bild: Hugo Glendinning)

Sie scheinen nur kurz weg zu sein, könnten jeden Augenblick durch die Tür treten. Alles wirkt unverändert, wie sie es verlassen haben – mit ihrem Tod. Das Tageslicht bricht müde durch die Fenster, es muffelt etwas: der Geruch von stehengebliebener Zeit. Hier, im Red House bei Aldeburgh im englischen Suffolk an der Nordsee, lebte der Komponist Benjamin Britten seit 1957, mit seinem Lebensgefährten Peter Pears. Beider letzte Ruhestätte befindet sich auf dem Friedhof von Aldeburgh.

In diesem kleinen Fischerdorf wurde Musikgeschichte geschrieben. Von dem Ort, der Region und dem spezifischen Menschenschlag sind zahlreiche Werke Brittens inspiriert, darunter die Opern «Peter Grimes», «Billy Budd», «Albert Herring» oder «Noye's Fludde». Viele Werke wurden hier uraufgeführt, und nicht zuletzt gründeten Britten und Pears vor siebzig Jahren das Aldeburgh Festival. Alljährlich im Juni wird seither ein Programm mit Klassik-Prominenz, aber auch jungen Musikern geschnürt. Vor fünfzig Jahren eröffneten Britten und Pear überdies Snape Maltings, ein Musikzentrum, hochgelobt von Grössen wie Alfred Brendel und Daniel Barenboim.

Ein wegweisendes Werk

Neben dem Aldeburgh Festival ist das Britten-Pears Young Artist Programme (BPYA) heute ein zweiter zentraler Baustein der Einrichtung. Auch dieses Aus- und Weiterbildungsprojekt wurde von Britten und Pears initiiert: zu einer Zeit, als Begriffe wie Vermittlung oder Education im Musikleben noch Fremdwörter waren.

Zum BPYA-Programm zählen insgesamt sechs hauseigene Klangkörper, darunter Spezialensembles für alte und neue Musik. Wie hoch die musikalische Qualität ist, bezeugt eine hörenswerte CD mit Werken von Richard Strauss, gespielt von den Aldeburgh Strings und den Aldeburgh Winds, die jetzt beim Label Linn erschienen ist. Am diesjährigen Festival glänzt hingegen besonders das Aldeburgh Festival Orchestra (AFO), ein Projekt-Ensemble, das sich aus Profimusikern und Nachwuchstalenten zusammensetzt.

Zu einem Höhepunkt avanciert die Darbietung von Brittens Oper «A Midsummer Night's Dream» nach Shakespeare. Auch dieses Werk ist eng mit Aldeburgh verbunden. Britten selbst hatte 1960 die Uraufführung des Dreiakters geleitet, damals noch in der Jubilee Hall. Es ist ein wegweisendes Werk, auch deshalb, weil Britten die Partie des Elfenkönigs Oberon für den bedeutenden Countertenor Alfred Deller entwarf. Neben den Pionieren des Originalklangs ist es zuvörderst Deller und Britten zu verdanken, dass es im 20. Jahrhundert zu einer Renaissance des hohen Männergesangs kam.

Die Aufführung von Brittens «Sommernachtstraum» in Aldeburgh verriet zugleich eine persönliche Motivation für die Wiederbelebung dieses Stimmfachs. Als Homosexueller, der sich zeitlebens an den Rand der Gesellschaft gerückt sah, der zudem in Opern wie «Death in Venice» nach Thomas Mann, «Billy Budd» oder «Peter Grimes» Homoerotik und Homophobie offen thematisierte, scheint Britten klangliche Gegenwelten zu erschaffen. Aus der Verbindung zwischen der Counterstimme von Iestyn Davies und den Knabensopranen des Elfenchores erwuchs in Aldeburgh buchstäblich ein «Klang des Anderen».

Wie in anderen Werken reflektiert Britten im «Sommernachtstraum» zudem das Erbe des englischen Barocks, allen voran von Henry Purcell. Dem steht eine luzide, südlich wirkende Klangsinnlichkeit gegenüber. Unter der stilgerechten Leitung von Ryan Wigglesworth glänzen die Musiker und Solisten mit schlanker Phrasierung und glasklarer Artikulation, bei sparsam dosiertem Vibrato. Sehr passend – hatte doch ein Meisterkurs der Mezzosopranistin Ann Murray und des Pianisten Malcolm Martineau verdeutlicht, wie nötig eine schlanke und agile Tongebung für die Britten-Interpretation ist.

Risiko Brexit

Heute geriert sich das Aldeburgh Festival als spannende, international ausgerichtete Werkstatt – und das möchte Roger Wright konsequent ausbauen. Der frühere Leiter der Londoner Proms-Konzerte trägt seit 2014 die Verantwortung für Snape Maltings. In den kommenden zehn bis fünfzehn Jahren soll das Musikzentrum zu einem «weltweit führenden kreativen Campus» werden. Allerdings ziehen derzeit mächtige dunkle Wolken auf: in Gestalt des Brexit.

Der geplante Austritt Grossbritanniens aus der EU wird im britischen Musikleben mit grosser Sorge betrachtet. Aus dem Umfeld der Association of British Orchestras ist zu hören, dass bereits manche Orchester des Landes befürchten, im Wettbewerb um die musische Elite aus Zentraleuropa künftig zu verlieren – weil der Brexit potenzielle Bewerber abschreckt. Auch die Zukunft von internationalen Partnerschaften und Austauschprogrammen ist nicht einmal in Ansätzen geklärt.

Dies alles könnte auch Auswirkungen auf die Aus- und Weiterbildungsprojekte in Aldeburgh haben. Natürlich gebe es derzeit in Grossbritannien viele Sorgen wegen des Brexit, räumt Wright ein. «Wir sind aber eine international vernetzte Organisation, und das werden wir bleiben», betont er. «Was wir tun können, ist, dass wir uns dezidiert als solche begreifen.» Seine Worte erscheinen mehr wie eine Mahnung. Zuversicht klingt anders.