Am Ende sind alle tot, und Alviano Salvago ist wahnsinnig geworden

Der polnische Regisseur Krzystof Warlikowski hat für die Münchner Opernfestspiele den Dreiakter «Die Gezeichneten» von Franz Schreker neu inszeniert. Das Ergebnis ist eine vielschichtige Zeitkritik.

Marco Frei, München
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Die Schönen und das singende Biest: Frank Schrekers Oper «Die Gezeichneten» in der Lesart von Krzysztof Warlikowski bei den Münchner Opernfestspielen. (Bild: Wilfried Hösl)

Die Schönen und das singende Biest: Frank Schrekers Oper «Die Gezeichneten» in der Lesart von Krzysztof Warlikowski bei den Münchner Opernfestspielen. (Bild: Wilfried Hösl)

Am Ende sind alle tot, und Alviano Salvago ist wahnsinnig geworden. Er irrt umher, stolpert über Leichen, stammelt wirr mit leerem Blick. Seine Vision, eine schöne neue Welt zu erschaffen, hat sich in das Gegenteil verkehrt: ein Ort des Grauens. In diesem finalen Moment der Erkenntnis ist die Bühne fast schon leer, nackt wie der Mensch selbst. Nichts lenkt von dem kollektiven Scheitern ab. Alle sind auf sich selbst zurückgeworfen. Ein abgründiges Kammerspiel.

Schöne neue Welt

Mit diesem beklemmenden, schauerlichen Bild endet die Inszenierung des Dreiakters «Die Gezeichneten» von Franz Schreker, die Krzysztof Warlikowski für die Bayerische Staatsoper entworfen hat und die jetzt im Rahmen der Münchner Opernfestspiele Premiere hatte. Die Geschichte eines entstellten, verkrüppelten Edelmannes aus Genua, der auf einer isolierten Insel sein «Elysium» erschafft, ein «Reich des Schönen», wo indessen junge Frauen gefangen gehalten und vergewaltigt werden, ist für den polnischen Regisseur ein kritisches Sinnbild.

Damit rückt Warlikowski die damalige Zeit in den Fokus, als die Oper Schrekers entstanden ist. Im April 1918 in Frankfurt uraufgeführt, ist sie für Warlikowski ein Werk der Zwischenkriegszeit: mit allen Konsequenzen. Noch im selben Jahr wird der Erste Weltkrieg ausklingen, ein erster Versuch, die Welt neu zu ordnen, was zu einer mörderischen, totalen Katastrophe führte. Für Warlikowski steht fest, dass Schreker mit seinen «Gezeichneten» auch dieses Ereignis reflektiert.

Für Warlikowski ahnte Schreker gleichzeitig auch die bald folgende zweite Katastrophe voraus: den Aufstieg von Adolf Hitler, der ein «Gross-Germanien» mit einer «arischen Herrenrasse» im Sinn hatte, sowie den Zweiten Weltkrieg. Diese zweite Katastrophe überlebte Schreker nicht. Als Jude musste er zusehen, wie in den 1920er Jahren die faschistischen Hetzer mächtiger wurden. Bald sah er sich als «entarteter Komponist» verunglimpft und verlor seine Ämter. Zerstörerische Depressionen mit grauenvollen Angstzuständen zehrten auch körperlich an seiner Gesundheit: Im März 1934 erleidet Schreker einen tödlichen Herzanfall.

Aus diesen Bausteinen setzt Warlikowski seine Inszenierung zusammen, um wohltuend auf wüste Blut- und Sexorgien zu verzichten. Er verdoppelt nicht die ohnehin ausdrucksstarke, vielfach eindeutige Musik Schrekers, sondern möchte mehr die Hintergründe ausleuchten. Darin ähnelt sein Ansatz grundsätzlich der Inszenierung, die Graham Vick 2010 für das Teatro Massimo im sizilianischen Palermo entworfen hatte: als erste Aufführung dieser Oper in Italien. Im Gegensatz zu Vick entwickelt jedoch Warlikowski eine zeit- und sozialkritische Haltung: nicht plakativ, sondern ganz subtil.

Das Heute im Gestern

Dazu zitiert er reichlich aus der Kulturgeschichte der Moderne. Mit Ausschnitten aus frühen Filmen des Expressionismus, darunter «Der Golem» oder Murnaus «Nosferatu», wird nicht zuletzt eine Brücke zur Entstehungszeit der Oper geschlagen.

Das Tuch, mit dem Alviano – darstellerisch überzeugend von John Daszak – seine Hässlichkeit verbirgt, erinnert hingegen an den Film «The Elephant Man» von David Lynch von 1980. Und die Mäusemasken lassen sich als Anspielung auf den Holocaust-Comic «Maus» deuten, mit dem Art Spiegelman vor rund dreissig Jahren berühmt wurde. Auch die Performance «The Artist is present» von Marina Abramović von 2010 ist präsent. Im Museum of Modern Art in New York sassen sich die Künstlerin und wechselnde Besucher dabei an einem Tisch gegenüber, um sich lange anzustarren. Diese Szene wird aufgegriffen, wenn die gebrechliche Malerin Carlotta – sehr präsent Catherine Naglestad – dem verkrüppelten Alviano gegenübersitzt: Als Künstlerin möchte sie seine Seele malen. Er liebt sie, und sie liebt ihn, was er allerdings nicht zulässt. Der Graf Tamare – überragend gestaltet von Christopher Maltman, gesanglich die beste Leistung an der Premiere – nutzt das aus.

Die Macho-Gesellschaft wird vorgeführt

Mit einer Boxkampfarena im Hintergrund der Bühne wird die Macho-Gesellschaft vorgeführt. Die Frauen verkümmern zu einem Ballett, das brav herumhopst. Auch die Bühne in Bauhaus-Design sowie die Kostüme, beides klug und fein kreiert von Małgorzata Szczęśniak, passen einerseits zur damaligen Zeit wie auch andererseits zur heutigen Postmoderne. Die Intention ist klar: Warlikowski möchte den Opernstoff in das Heute hineintragen.

Seine «Gezeichneten» wandeln nicht einzig auf den Trümmern zweier Weltkriege, sondern stehen ebenso den gegenwärtigen Entwicklungen skeptisch gegenüber. Warlikowski misstraut jedwedem Versuch, die Welt neu ordnen zu wollen: weil schnell Wahn, Terror und Krieg drohen können. Ein starker Ansatz ist das, zumal dies alles eher einen «Subtext» herausbildet. Allerdings gelingt es dieser Inszenierung nicht, sich aus sich selber heraus zu erklären. Um die zahllosen Assoziationen als Normalsterblicher zu verstehen, wäre ein Beipackzettel hilfreich.

Das dicke, aufwendig gestaltete Programmbuch führt nur die Film- und Abramović-Zitate auf. Alles andere muss man sich selbst aus dem Hirn pressen, was den Abend bisweilen zäh macht. Überdies wäre es notwendig gewesen, im dritten Akt die Deutungsebenen stringent zu bündeln und aufzuklären. Stattdessen stellt Warlikowski weitere Aspekte in den Raum. Dieser letzte Akt beginnt nach der Pause mit einem Sprechmonolog von Alviano, zusätzlich integriert von Warlikowski. Es sind Worte aus der Feder von Schreker, mit denen dieser einst gegen Kritiker stichelte.

Opfer oder Täter?

In dieser Lesart sind Alviano und Schreker eine Person, und projizierte Judensterne zeigen eindeutig, dass auch der hässliche Krüppel ein Opfer ist. Doch das ist er eben nicht: Auch in Warlikowskis Regie bleibt Alviano der gescheiterte Führer einer wahnhaft verfolgten Neuordnung – ein Widerspruch in der Personenführung, der bis zum Schluss nicht aufgelöst wird. Umso erfreulicher an der Premiere die Leitung von Ingo Metzmacher, die im Bayerischen Staatsorchester ein direktes, zugleich feinsinnig-farbenreiches Glühen entfachte. Metzmacher sprach offen aus, was die Regie oftmals nur andeutet.