Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

"Die Gezeichneten" an der Bayerischen Staatsoper
Ein Gentlemen's Club voller dekadenter Mäuse

"Die Gezeichneten" von Frank Schreker thematisiert die Erschaffung einer perfekten, künstlichen Welt. Das Debüt von Ingo Metzmacher an der Bayerischen Staatsoper ist ein Meisterstück, findet Dlf-Rezensent Jörn Florian Fuchs.

Von Jörn Florian Fuchs | 03.07.2017
    Szene aus Frank Schrekers "Die Gezeichneten" in der Inszenierung von Krzysztof Warlikowski an der Bayerischen Staatsoper in München
    Szene aus Frank Schrekers "Die Gezeichneten" in der Inszenierung von Krzysztof Warlikowski an der Bayerischen Staatsoper in München (Bayerische Staatsoper / Wilfried Hösl)
    Wenn man vor die Wahl gestellt wird, einen Sommerabend in München oder in Paris zu verbringen, dürfte viel für die Seine-Metropole sprechen. Statt bayerischer Schließstunde und eines schnellen Late-Night-Döner-Dinners gäbe es wunderbare Nachtcafés oder Spaß im Cabaret. Für den Opernfan ist Paris zwar auch immer eine Reise wert, doch die Sache hat einen Haken.
    Das Pariser Opernpublikum ist nämlich arg reaktionär und teilt seinen Unmut gern auch während der Aufführungen mit. So geschehen vor ein paar Jahren, als Krzysztof Warlikowski an der Opéra de Paris den dritten Aufzug des "Parsifal" mit Filmaufnahmen vom zerstörten Nachkriegsdeutschland erweiterte. Von der Musik war streckenweise ob der brachialen Brüllerlei aus dem Auditorium kaum mehr etwas zu hören.
    In München blieben die Premierenbesucher gesittet, nur am Ende machten einige ihrem Unmut Luft. Dabei kommt Warlikowski Franz Schrekers vor rund 100 Jahren uraufgeführtem Stück sehr nahe, gerade weil er sich von diesem mittels einer künstlich-kunstvollen Ästhetik - scheinbar - weit entfernt.
    Die Dreiecksgeschichte um den missgebildeten Alviano, seinen schönen Widersacher Graf Tamare und Carlotta, die Alviano zeitweise zu lieben scheint, später aber doch dem Grafen verfällt, wird klar und einfühlsam erzählt.
    Ein Tempel der Dekadenz
    Alviano hat sich auf einer Insel vor Genua ein Refugium geschaffen, einen Tempel der Dekadenz, hier feiert der Adel fröhliche Feste, manchmal mit durchaus perversem und kriminellem Einschlag. Junge Frauen werden verschleppt und missbraucht, bis es Alviano zu viel wird und er die Insel der Stadt schenken will.
    Die hierbei entstehenden Konflikte und Machtspielchen interessieren Warlikowski eher am Rande. Mit ruhiger, oft fast meditativer Personenführung zeigt, nein, zeichnet er Figuren, die vom Leben wiederum gezeichnet sind. Die Insel ist ein edler Gentlemen's Club, in dem androgyne Wesen umherschwirren und wo zeitweise bis aufs Blut geboxt wird. Es gibt dort einen echten Boxring.
    Mehr und mehr verschwimmen die Ebenen, die realen Charaktere erscheinen plötzlich als Tiere, bis ein ganzes Rudel Mäuse vor einer Leinwand sitzt und sich alte Stummfilme rund um den Golem oder Frankenstein ansieht.
    Das schöne Mädchen und die Bestie
    Das schöne Mädchen und die Bestie, dieses Grunddrama variiert die Inszenierung fein und vielfältig. Dazu kommen Bezüge aus der bildenden Kunst, etwa Marina Abramović mit ihrer Aktion "The artist is present" - hier sitzen sich zwei Menschen hoch konzentriert gegenüber. Oder David LaChapelles "Lonely Doll", das Bild einer dicken, ältlichen Stripperin. Warlikowski beweist hohe Dekadenz-Kompetenz und kreiert eine düstere, zeitlupenartige Revue reich an intelligenten Details und mit teilweise verstörenden Wendungen.
    Zu Beginn des dritten Akts sitzt der sonst wunderbar singende John Daszak, alias Alviano, im Sessel, raucht und rezitiert eine Selbstbeschreibung Schrekers, während neben ihm eine Animierdame müde ihre Hüften schwingt.
    Dieser Text, die Oper und die Inszenierung sind durchzogen von einer Mischung aus Selbstbewusstsein, Zweifel und Brüchigkeit. Auch Schrekers Musik verbindet triumphalische Klangräusche und Farbfeuerwerke mit abgründigen Schärfen.
    Ingo Metzmacher gelingt bei seinem Debüt an der Bayerischen Staatsoper einfach alles. Präzise donnerndes Blech, penibel gestaffelte Streicher, überwältigende Tutti - ein Meisterstück!
    Die mehr als 30 Partien sind allesamt toll besetzt. Catherine Naglestad zeigt Carlotta eindrucksvoll als zwischen wilder Geilheit, Mitleid und Trauer um den toten Grafen schwankendes Wesen. Letzteren gibt Christopher Maltman mit bösem, starkem Bariton. Der hilft ihm am Ende gar nichts, denn Alviano tötet den Grafen und sackt dann selbst langsam zusammen, während eine ziemlich bedrohliche Video-Sonne aufgeht.