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Die deutsche Kunst und ihr Feind

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Im Schreckbild des Antisemitismus kann sich der hässliche Deutsche gespiegelt sehen: Johannes Martin Kränzle als Sixtus Beckmesser.
Im Schreckbild des Antisemitismus kann sich der hässliche Deutsche gespiegelt sehen: Johannes Martin Kränzle als Sixtus Beckmesser. © Enrico Nawrath (Festspiele Bayreuth) / dpa

Barrie Koskys schwarz karnevalistische Neuinszenierung der "Meistersinger" für die Bayreuther Festspiele.

Das Jahr 2017 – ein besonderes in Bayreuth. Es gedachte des 100. Geburtstages von Wieland Wagner, dem frühverstorbenen Bildkünstler, Regisseur und programmatischen Kopf der „Neubayreuther“ Geschichte nach der Festspielwiedereröffnung 1951.

Zum Festakt im Festspielhaus trugen die Nachkommen beider Wagnerlinien (Wielands und seines Bruders Wolfgang) bei; diese neue familiäre Eintracht hatte als „special event“ die in sonstigen Jahren üblichen katastrophischen Sensationen vom vorsaisonalen Grünen Hügel zu vertreten. Vor Freude darüber weinte sich der Himmel tagelang über den fränkischen Landen aus und gebar im Festspielareal die abenteuerlichsten Regenschirmkreationen.

Der praktischerweise auf den Vorabend der diesjährigen Neuinszenierung („Die Meistersinger von Nürnberg“) gelegte Festakt begann mit der „Rienzi“-Ouvertüre, mithin einem dezent-unmissverständlichen Hinweis auf die frühe Lieblingsoper Adolf Hitlers, der als „Onkel Wolf“ quasi ein Familienmitglied in Wahnfried war und Wieland Wagners künstlerisches Talent förderte und bewunderte.

Von Villa Wahnfried zu den Nürnberger Prozessen

Die insbesondere von Wielands Tochter Nike beim Vater konstatierte Verwandlung von Scham in Schweigen evozierte nach 1945 eine ungeheuerliche Verdrängungsleistung (analog und konträr zu jener banaleren Entnazifizierungsautomatik bei dem Gros der Deutschen), an der dieser Wagnerenkel wahrscheinlich zerbrach. Zuvor entwickelte er, nicht nur für die Werke seines Großvaters, einen weithin einflussreichen abstrakt-mythischen Aufführungsstil in der magischen Art großer leerer Bühnenräume, in denen die Figuren winzig dastanden wie auf C.D. Friedrichs Gemälden.

Als Festredner entwickelte Sir Peter Jonas, ehemals Münchner Opernintendant, ein politisch-psychologisches Tiefenporträt Wieland Wagners sowie seiner und unserer Zeit, wie es einem deutschen Kenner der Materie in dieser Mischung von Unbefangenheit, Mut, Schärfe und, ja, auch Humor kaum möglich gewesen wäre. Eine große Rede. Daneben waren die Grußworte von Katharina Wagner (Wielandnichte und Festspielleiterin) und Wielands Sohn Wolf-Siegfried („Wummi“) persönlich-bekenntnishafte Fußnoten. Immerhin trug letzterer, auf den Vater gemünzt, die flagrante Formel „geschichtlich verstrahlt“ bei. Die musikalischen Umrahmungen (Festspielorchester mit Hartmut Haenchen) hatten die Pikanterie, im Festspielheiligtum auch nichtwagner’sche Musik (Fragmente aus Bergs „Wozzeck“ und mehr als den halben „Otello“-Schlussakt) zu bieten.

Eine eigenartige Konstellation, dass es  nach Jonas wieder ein Angelsachse war, der in diesem Jahr einen entscheidenden Interpretationsakzent an dieser Wagnerstätte setzte: der australische Jude Barrie Kosky mit seiner Version der „Meistersinger von Nürnberg“, der er das (auch von Sir Peter aufgegriffene) Prädikat „Bayreuth is comedy“ aufdrückte. Beabsichtigt war offenbar keine martialische Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte des so krass helldunklen Stückes, sondern eine möglichst leichtfüßige Komödie vor finsterem Hintergrund. Das mit der „Leichtigkeit“ bleibt natürlich halbwegs in einer Absichtserklärung stecken – was Wunder bei einer Vorstellung, die einen halben Tag dauert und gewissermaßen eine ästhetische Konfession in sechs Bänden enthält.

Vielleicht ließ sich eine Abspeckungsenergie am ehesten am musikalischen Befund feststellen. Gewichtsverminderung und Transparenz kennzeichneten recht auffällig das Dirigat von Philippe Jordan, ein hörbar „französisch“ inspiriertes, ähnlich wie bei Cluytens und Boulez, aber auch Böhm. Dabei kam das erste Orchestervorspiel noch etwas fischig und profilschwach. Merklich zog die Klangqualität im zweiten Akt an (trotz etlicher Koordinationsschwierigkeiten), auch beim Chor, und erreichte bei der Einleitung zur Schusterstube ein auch in der Intonation der Blechbläser fulminantes Niveau. Immer sicherer wurden dabei auch dynamische Steigerungen und Höhepunkte herausgearbeitet. Womöglich das Beeindruckendste war die Ruhe und Ausgeglichenheit der Vortragsweise, auch die noch nie so erlebte Fähigkeit, Generalpausen bis zum Äußersten auszureizen – wunderbar etwa vor den Schlusszeilen des Fliedermonologs im 2. Akt („Der Vogel, der heut sang, dem war der Schnabel hold gewachsen“).

Dass das große initiierende Orchestervorspiel als tönend-dröhnende Klangimpression halbwegs in die Binsen ging, hatte aber auch mit Koskys drastisch realisierter Idee zu tun, der Handlung einen wagnerbiografischen Rahmen vorzuschalten. Die Bühnenbildnerin Rebecca Ringst baute demnach in einem untiefen Kasten den Salon der Villa Wahnfried nach. An einem Augusttag 1875 versammeln sich hier Familienangehörige und Getreue, und aus allerlei privaten Verrichtungen (Richard Wagner schält mit großem Eifer einen Tand nach dem anderen aus Packpapier und frönt seiner naiv luxurierenden Eitelkeit) kommt allmählich eine sozusagen hausmusikalische Aufführung der ganzen immensen „comedy“ zustande. Domestiken stürmen an den passenden Stellen herein und mimen die Lehrbuben und Singschüler, und das ehrwürdige Fähnlein der Meister (historisierende Kostüme: Klaus Bruns) kriecht hoffmannesk-skurril aus dem Konzertflügel hervor. Die ganze sonntägliche „Singschul“ mit der kollektiven Abmeierung des Außenseiters Stolzing ist ein bizarr-puppenhaftes Gewusel. Und als man, auf der Höhe des finalen Tumultes, der kleinkleinen Enge dieses Zigarrenkistenschauplatzes überdrüssig zu werden beginnt, fährt Wahnfried plötzlich in den Hintergrund, und es zeigt sich eine nur noch gering modifizierte Räumlichkeit, die sich schließlich (mit den Fahnen der vier Alliierten) im 3. Akt als Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse herausstellt.

Das Hineingleiten Wahnfrieds in die Nürnberg-Topographien der „Meistersinger“-Handlung wäre freilich nichts ohne das Sichherauswickeln der Opernfiguren aus den Rahmenpersonen. So wird aus Richard dem Großen selbstverständlich Hans Sachs, etwas peripherer auch der Ritter Walter von Stolzing, einmal sogar Geselle David – beim Mädchentanz auf der Festwiese, wo er mit mehreren Doubles das Konterfei von Cosima umtänzelt. Problematischer gerät die Verwandlung Cosimas in die schöne Pognertochter Eva – für deren Darstellerin Anne Schwanewilms eine beträchtliche Hypothek. Mit dieser Rolle verknüpfte Cosima-Assoziationen sind ja, wenn man sie nicht gerade mit den Augen Richard Wagners betrachtet, nicht gerade schmeichelhaft.

Und aus Wagners jüdischem Mitarbeiter, dem Dirigenten Hermann Levi (seine Unzugehörigkeit wird bereits beim einleitenden Gottesdienst markiert), geht dann kein anderer hervor als Beckmesser, die notorische Judenfigur, verlacht und ausgestoßen. Er ist in dem differenziert entfalteten ästhetischen Theoriekonzept dieser „comedy“ der prinzipielle Feind der Kunst. Der Pedant, der Intellektuelle. In der Oper nicht ausdrücklich rassistisch konnotiert (wie käme er sonst im Zunftwesen der Sachszeit auch zu Meisterehren), ist er dennoch rezeptionsgeschichtlich gebrandmarkt.

Wagner hätte sich das so nicht ausmalen können

Kosky spitzt den Konflikt zwischen („deutsch“-legitimer) Kunst und kunstfeindlicher „Afterkunst“ ganz auf Sachs und Beckmesser zu. Am bittersten gerät dabei der zweite Aktschluss. Die auch shakespearisch-spukhafte Sommernachtszene mündet hier nicht in eine allgemeine Prügelei, sondern die kollektive Gewalt adressiert sich ausdrücklich an Beckmesser und geschieht im Namen (unter dem Bild) Wagners. Zum Aktende wird eine bühnenfüllende aufgeblasene Judenfratze aufgefahren, ein ins Auditorium starrendes Schreckbild des Antisemitismus, in dem sich der hässliche Deutsche gespiegelt sehen kann.

Herausragende Eindrücke vermitteln also der Sachs von Michael Volle und der Beckmesser von Johannes Martin Kränzle. Jener im patriarchalisch-gemütlichen, aber auch zielsicher hinterlistigen Ränkespiel körpergewandt, ist auch stimmlich in jedem Moment präsent, und dabei wird manche Passage weniger edel-staatsmännisch als pointiert gebracht, wie gegen den Strich gebürstet. Ungeachtet größter darstellerischer Beweglichkeit und heftigen („jüdischen“) Gestikulierens singt Kränzle mit lupenreiner Tonsicherheit, ja -schönheit, und bei seinem so ingeniös missratenen Werbelied ist jede Silbe zu verstehen.

Koskys zur Übermotorik tendierende Personenregie kommt bei Anne Schwanewilms’ Eva zu ihrer anfechtbarsten Auswirkung. Es scheint so, als werde die Sängerin am frei strömenden Liniengesang gehindert, durch übertrieben hektische Aktionen, die sie zu stoßweiser, abbrüchiger, atemlos, anmutender Artikulation veranlassen. Ein mehr kindisches als mädchenhaftes Herumrennen auf der Bühne, das diese Partie vokal schlichtweg verschenkt und die voluminöse Magdalenasängerin Wiebke Lehmkuhl als Denkmal schönster Sonorität dastehen lässt.

Weniger als bei Katharina Wagners Bayreuther „Meistersingern“ steht Klaus Florian Vogt im Mittelpunkt der Exegese – er und Eva verschwinden am Ende so abrupt wie Beckmesser. Vogts sehr heller, wenn auch jetzt geringfügig schwererer Stolzing-Tenor wäre immer noch angemessener für den David als der wenig jugendlich anmutende Charaktertenor Daniel Behles. Kein Geringerer als der prominente König-Marke-Sänger Georg Zeppenfeld übernahm die Stimme des Nachtwächters.

Wie manifestierten sich gegen Ende doch so etwas wie Leichtigkeit und Aufhellung in Koskys Comedy-Sicht? Nun ja, der Ort des politischen Tribunals blieb seinem historischen Zweck entfremdet: Die Festwiesenscharen besetzten ihn fähnchenschwingend und anarchisch, dabei raffiniert in Bewegung und stehkaderartigem Stillstand abwechselnd. Bei der leirigen finalen Nationalansprache Sachsens (nun wieder in der Barettmaske Richard Wagners), wohl dem Tiefpunkt der Partitur, steht der Held allein auf der leeren Bühne und schmettert ins Publikum. Zum letzten Chor fährt aus dem Hintergrund eine chorische und instrumentale Formation vor und wird von Michael Volle/Richard Wagner pathetisch-ausladend dirigiert. Ein versöhnlicher Schlusseffekt? Wohl eher ein diskreter Hinweis auf die in Thomas Manns „Doktor Faustus“ ebenso wie in Thomas Bernhards „Alten Meistern“ durchexerzierte politische Geschichte der deutschen Musik im Zusammenhang mit dem Irrationalismus und der Zerstörung der Vernunft. Diese unlehrhaft sanfte Belehrung Koskys schien für das begeisterungsfähige Bayreuthpublikum durchweg annehmbar.

50 Jahre seit dem Tode Wieland Wagners – eine lange, lange Zeit. Dass man die „Meistersinger“ einmal so unbeschwert locker und dennoch schwarz karnevalistisch inszenieren könnte, wie Barrie Kosky es tat, lag sicher völlig jenseits seiner Vorstellungskraft.

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