Danke, Maestro Verdi!

Salzburgs neue «Aida» mit dem Debüt von Anna Netrebko in der Titelrolle und dem Dirigenten Riccardo Muti am Pult vermittelt ein eigenwilliges Verständnis von «Musik-Theater».

Christian Wildhagen, Salzburg
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Amneris (Ekaterina Semenchuk) verflucht die auffällig gewandeten Priester in der Regie von Shirin Neshat. (Bild: Monika Rittershaus)

Amneris (Ekaterina Semenchuk) verflucht die auffällig gewandeten Priester in der Regie von Shirin Neshat. (Bild: Monika Rittershaus)

Er hat Glück, der Herr Intendant. Aber er hat auch Verstand. Und so kann Markus Hinterhäuser, seit dieser Saison verantwortlich für den künstlerischen Kurs des bedeutendsten Musikfestivals der Welt, nach drei von insgesamt fünf Musiktheater-Premieren dieses Sommers eigentlich zufrieden sein. Natürlich ist er es nicht, denn eine Qualität des neuen Mannes an der Spitze ist die permanente Selbstkritik. Doch auch die wird ihm zugestehen, dass er den Festspielen eine Qualität wiedergegeben hat, die an diesem Ort ein wenig verloren gegangen war: Es wird wieder diskutiert über die Salzburger Produktionen, leidenschaftlich und kontrovers, nicht mehr bloss Kunst konsumiert auf höchstem Preis- und Leistungsniveau.

Das begann mit Mozarts «La clemenza di Tito» – wahrlich nicht die prädestinierte Oper für den Beginn einer Intendanz, von Peter Sellars und Teodor Currentzis obendrein umgedeutet zu einem Sittenbild unserer Zeit unter dem Eindruck der Flüchtlingsströme. Es setzte sich fort mit einer «Lady Macbeth von Mzensk», die immer ein ästhetisches Wagnis ist, hier aber unter dem fulminanten Dirigat des Schostakowitsch-Experten Mariss Jansons derart bezwingend geriet, dass schon bei der zweiten Vorstellung des einstigen Skandalstücks Musikbegeisterte mit «Suche Karte»-Schildchen vor dem Grossen Festspielhaus gesichtet wurden.

Und nun also Verdis «Aida», die zentrale dritte Opernpremiere dieses Sommers, der noch Bergs «Wozzeck» und Reimanns «Lear» folgen werden. Was hatte es im Vorfeld für Aufregungen um diese Aufführung gegeben: wegen des Engagements der aus Iran stammenden Künstlerin Shirin Neshat für die Regie; wegen der Rückkehr des Dirigenten Riccardo Muti nach längerer grantelnder Salzburg-Absenz; wegen der Schwarzmarktpreise für die bis zu 450 Euro teuren Karten, die weit in die Tausende gehen sollen. Und dies alles nicht zuletzt um ihretwillen: wegen des Rollendebüts von Anna Netrebko, der einzigen Primadonna assoluta unserer Tage.

Die Besten der Besten

Im Rahmen des Gesamtprogramms wirkt diese Produktion mit ihrem gewaltigen Hype um Namen, vermeintliche Zerwürfnisse und andere Hinterbühnen-Anekdoten denn auch ein wenig wie ein Rückfall in die Promi-Opulenz der Salzburger (und Zürcher) Pereira-Jahre – das wird sich auch Hinterhäuser in stilleren Minuten eingestehen. Doch er weiss: Auch dies gehört seit dem seligen Karajan zu Festspielen – der Anspruch nämlich, die Besten der Besten in Idealbesetzungen zusammenzuführen und auf diese Weise Musteraufführungen zentraler Werke des Repertoires als Messlatte für alle anderen zu schaffen.

Aida (Anna Netrebko, links) vergegenwärtigt sich das Flüchtlingsschicksal ihrer äthiopischen Landsleute. (Bild: Monika Rittershaus / Salzburger Festspiele)

Aida (Anna Netrebko, links) vergegenwärtigt sich das Flüchtlingsschicksal ihrer äthiopischen Landsleute. (Bild: Monika Rittershaus / Salzburger Festspiele)

Tatsächlich kann man heute wohl keine stimmschönere Sängerin für die Titelrolle engagieren. Anna Netrebko befindet sich vokal hörbar auf dem Gipfel ihrer Laufbahn: Ihr charakteristisch weicher, über die Jahre noch fülliger und farbiger gewordener Sopran ist ausgewogen in allen Lagen; die in dieser Partie viel geforderte Piano-Höhe spricht fast durchweg mühelos an, gleichzeitig behält die Stimme ihre Grundierung in der üppigen Bruststimme. Warm, fast wie ein Cello in Tenorlage, klingt die Stimme bei ihrer Ansprache an die Rivalin Amneris im zweiten Akt («Tu sei felice. . .»), aber sie kann auch leise, fast schwerelos flehen wie in den wiederkehrenden «Numi, pietà!»-Rufen und kämpferisch strahlen wie im Duett mit dem feurigen Amonasro von Luca Salsi.

In der vorangehenden «Nil-Arie» im dritten Aufzug scheint es sogar, als verfüge Netrebko über zwei Stimmen: eine düster-verzweifelte für das «O patri mia, mai più ti rivedrò» – eine körperlos-leichte für die Vision der «cieli azzurri» und den makellosen Pianissimo-Aufstieg zum hohen C am Ende. Dies ist Gesang in einer – auch technischen – Verfeinerung, wie er in den Hoch-Zeiten des 20. Jahrhunderts gang und gäbe war, heute aber nur noch selten live in solcher Vollendung und Stilreinheit zu hören ist.

Zur Intensität trägt die Fülle an Nuancen bei, die Muti mit den – wie zuvor schon bei der «Lady Macbeth» – glänzend aufgelegten Wiener Philharmonikern Verdis subtiler Partitur entlockt. Es ist bekannt, dass Gustav Mahler Verdi für seine Instrumentation bewunderte; in Mutis beispielhafter Auffächerung etwa der fahlen und pastellenen Holzbläserfarben oder der irisierenden Streicher-Flageoletts hört man, was Mahler meinte.

Dreiecksspiel ohne Sieger

Eine gelungene «Aida»-Aufführung braucht freilich überzeugende Sänger in noch mindestens zwei weiteren Rollen, da sich der leidend-starke Charakter der in Feindesland verschleppten äthiopischen Prinzessin recht eigentlich erst in der Auseinandersetzung mit diesen beiden Figuren entfaltet. Francesco Meli, Salzburgs Radamès, verfügt über eine ähnliche vokale Kontrolle wie Netrebko, und das stellt er sogleich im wirklich «dolce» und piano gesungenen Schlusston («vicino al sol») seiner Auftrittsarie «Celeste Aida» unter Beweis. Endlich ein Tenor, um den man sich auch für den Rest des (durch zwei Pausen unnötig auf vier Stunden ausgedehnten) Abends keine Sorgen mehr zu machen braucht!

Zumal auch Melis Auffassung der Rolle überzeugt, die ein wenig an das Rollenbild Plácido Domingos erinnert, der den ägyptischen Feldherrn bereits 1974 auf einer legendären Einspielung unter Muti verewigt hat und jetzt in Salzburg im Publikum sass. Meli macht aus Radamès, der leicht so wächsern wirkt wie der Calàf in «Turandot», einen sensiblen Zweifler, zerrissen zwischen seiner Karriere als oberster Militär Ägyptens und der unbotmässigen Liebe zu Aida.

Aida (Anna Netrebko) wird von ihrem Vater Amonasro (Luca Salsi) unter Druck gesetzt, ihrem Geliebten Radamès ein Staatsgeheimnis zu entlocken. (Bild: Monika Rittershaus / Salzburger Festspiele)

Aida (Anna Netrebko) wird von ihrem Vater Amonasro (Luca Salsi) unter Druck gesetzt, ihrem Geliebten Radamès ein Staatsgeheimnis zu entlocken. (Bild: Monika Rittershaus / Salzburger Festspiele)

Zum Helden wird er nicht durch das Schwert, das man ihm in den pompösen Staatszeremonien der ersten beiden Akte wie in einer Initiation aufnötigt, sondern durch die wilde Entschlossenheit, mit der er sich schliesslich, um den Preis von Laufbahn und Leben, zu seiner Liebe bekennt. Sein stolzes «Sacerdote, io resto a te!», mit dem er sich selbst am Ende des dritten Aktes der orthodoxen Priesterkaste ausliefert, hallt lange nach.

«Musik-Theater»

Ekaterina Semenchuk ist als Pharaonentochter Amneris die dritte tragisch Liebende in diesem Dreiecksspiel, das keinen Sieger kennt. Die russische Mezzosopranistin braucht an der Premiere etwas länger, um stimmlich in Fahrt zu kommen, aber ihr gelingt das Entscheidende: nämlich Mitgefühl auch für diese herrisch-verzweifelte Figur zu wecken, besonders dann in ihrer atemberaubenden Szene im vierten Akt, die in der Verfluchung der Priester gipfelt.

Die Ägypter mutieren zu bösen weissen Imperialisten und die besiegten Äthiopier zu edelmütigen Flüchtlingen – allerdings nur für Leser des Programmhefts.

Und die Regie? Beschränkte sich in der Personenführung auf ein paar stereotype, leicht exaltierte Gesten – und auf hochästhetische Tableaus, die Neshat in Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Team um den Bühnenbildner Christian Schmidt, die Kostümbildnerin Tatyana van Walsum und den Lichtdesigner Reinhard Traub kreiert hat. Einen Deutungsansatz, in dem die Ägypter zu bösen weissen Imperialisten mutieren und die besiegten Äthiopier zu edelmütigen Flüchtlingen, gab es auch, aber nur für Leser des Programmhefts. Das Erstaunliche ist: Trotz der Statik funktioniert der Abend – wegen des überragenden Niveaus von Dirigent und Sängern. Dies ist «Musik-Theater», aber rein aus der Kraft von Verdis Partitur.