Der Mensch, die elende Kreatur

Der Künstler William Kentridge siedelt Alban Bergs Oper «Wozzeck» in einer optischen Umgebung an, die das Klima des Ersten Weltkriegs evoziert – ein Abend, der niemanden kalt lässt.

Peter Hagmann, Salzburg
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Abgestürzt: Wozzeck (Matthias Goerne) und der zynische Doktor (Jens Larsen), der Wozzeck für Experimente missbraucht. (Bild: Salzburger Festspiele / Ruth Walz)

Abgestürzt: Wozzeck (Matthias Goerne) und der zynische Doktor (Jens Larsen), der Wozzeck für Experimente missbraucht. (Bild: Salzburger Festspiele / Ruth Walz)

Was die Macht betrifft, ihre Ausübung und deren Konsequenzen – der Themenkomplex bildet in diesem Sommer das Gravitationszentrum im Opernprogramm der Salzburger Festspiele –, bietet Alban Bergs «Wozzeck» weitaus drastischeres Anschauungsmaterial als die nicht zuletzt für ihre schonungslose Brutalität gefürchtete «Lady Macbeth von Mzensk».

Eine knappe Woche nach der Oper Dmitri Schostakowitschs zur Premiere gebracht, liess Bergs Stück erkennen, dass die subtilen Methoden des Missbrauchs und der Demütigung eines Menschen tatsächlich unerträglicher wirken als die Handgreiflichkeiten bei Schostakowitsch. Jedenfalls dann, wenn die Oper so gezeigt wird, wie es William Kentridge tut.

Der bildende Künstler, Schauspieler und Regisseur aus Südafrika siedelt das Geschehen in einer optischen Umgebung an, die das Klima des Ersten Weltkriegs evoziert – in dem Berg selbst gegen seinen Willen und zu seinen gesundheitlichen Lasten gedient, in dem er aber auch an seiner allerdings erst nach Kriegsende abgeschlossenen Oper gearbeitet hat.

Die Inszenierungsidee schliesst somit an biografische Fakten an, was umso plausibler erscheint, als sich Berg durchaus mit der Figur des Wozzeck identifiziert hat. Überdies spiegelt Kentridges Ansatz in vielen Einzelheiten die militaristische Grundierung der Gesellschaft, der Figuren wie der Doktor, der Hauptmann und der Tambourmajor entspringen; zwischendurch mag sich der Zuschauer an Zeichnungen von George Grosz erinnern, in denen sich die Pickelhaube unter die Bürger mischt, als wäre es das Natürlichste der Welt.

Einzelne Inseln

Die Ausstattung, die Sabine Theunissen (Bühnenbild) und Greta Goiris (Kostüme) in sichtbarer Übereinstimmung mit Kentridge entworfen haben, stellt eine Art künstlicher Landschaft dar mit Hügeln, Treppen, Podesten und scheinbar im Freien stehendem Mobiliar. Nie herrscht volles Licht, sichtbar sind immer nur einzelne Inseln. Das ermöglicht geschmeidige, fast filmische Wechsel der Spielorte – jedenfalls vergehen die drei mal fünf Szenen auffallend rasch.

«Still, alles still, als wäre die Welt tot»: Wozzeck (Matthias Goerne, rechts) und Andres (Mauro Peter). (Bild: Salzburger Festspiele / Ruth Walz)

«Still, alles still, als wäre die Welt tot»: Wozzeck (Matthias Goerne, rechts) und Andres (Mauro Peter). (Bild: Salzburger Festspiele / Ruth Walz)

Wesentlichen Anteil daran hat aber auch der Dirigent Vladimir Jurowski, der – gefühlt, nicht gemessen – flüssige Tempi wählt und einen natürlichen Zug entstehen lässt, so dass die Nähe der Vokallinien Bergs zur gesprochenen Sprache deutlich wird. Darüber hinaus sorgt der Dirigent, der fabelhafte Transparenz erreicht, für eine spannende Präsenz des Instrumentalen. Gleich zu Beginn ist zu hören, dass der vollkommen durchkonstruierte, an hergebrachten Formen der Instrumentalmusik ausgerichtete Orchesterpart zu einer Hauptsache wird. Wofür auch die Wiener Philharmoniker sorgen, die wiederum mit einer Farbenpracht sondergleichen brillieren.

Wahrer Albtraum

Zugleich aber fordern – und das zu bewältigen ist nicht ganz einfach – die Beiträge, die Kentridge selbst zur szenischen Einrichtung geleistet hat, alle Aufmerksamkeit. Es handelt sich um grosse Kohlezeichnungen, die in rasch wechselndem Rhythmus auf den Bühnenhintergrund projiziert werden, sowie um kleine, animierte Kohlezeichnungen, die ruckelnd auf einer Leinwand erscheinen. Welchem Umfeld diese Bilderwelt entstammt, veranschaulicht eine grosse Kentridge-Retrospektive, die das Salzburger Museum der Moderne anlässlich der Produktion zeigt – Vernetzung ist ja eines der Prinzipien, denen die Programmgestaltung des neuen Salzburger Intendanten Markus Hinterhäuser gehorcht.

Kriegsversehrt, wohl vergeblich gegen das Giftgas geschützt, vielleicht tot: Marie (Asmik Grigorian) und ihr Kind. (Bild: Salzburger Festspiele / Ruth Walz)

Kriegsversehrt, wohl vergeblich gegen das Giftgas geschützt, vielleicht tot: Marie (Asmik Grigorian) und ihr Kind. (Bild: Salzburger Festspiele / Ruth Walz)

Für eine weitere Vorliebe Kentridges steht das Kind der Marie, das als eine an Stäben geführte Puppe erscheint: kriegsversehrt, wohl vergeblich gegen das Giftgas geschützt, vielleicht tot. Gasmasken, verzerrte Gesichter, Krücken, Holzbeine, künstliche Hände, verkohlte Wälder, ausgebrannte Häuser, abgestürzte Flugzeuge, der Zeppelin – die Bilderwelt dieses Abends erscheint als ein wahrer Albtraum.

Eindringlich kommt dabei die fürchterliche, unabwendbare Logik des Stücks zur Geltung – und dies, zumal die einzelnen Figuren äusserst charakteristisch besetzt wie ausgestaltet sind. Anders als die im Exil lebende Iranerin Shirin Neshat, die in Salzburg mit einer Inszenierung von Verdis «Aida» debütiert hat, ist Kentridge, was das Theater allgemein und die musikalische Bühne im Speziellen betrifft, alles andere als ein Neuling; zudem hatte er mit Luc De Wit einen versierten Co-Regisseur zur Seite.

Mit seiner tief gelagerten, weich zeichnenden Stimme stellt Matthias Goerne den Inbegriff des in sein Schicksal ergebenen Dulders dar – der aber dann, wenn es um die Frau und die männliche Ehre geht, entsetzlich handlungsfähig wird. Grossartig, wie Goerne den Part inzwischen verinnerlicht hat, wie er ihn von der Sprache her ausformt und dabei eine reich besetzte Palette an stimmlichen Farben einzusetzen weiss.

Ein erster Höhepunkt ereignet sich gleich in der ersten Szene, wo Wozzeck dem Hauptmann mit einem lapidaren Satz klarmacht, dass es für ein Leben nach den Massstäben der bürgerlichen Moral zuallererst eines braucht: Geld. Da zeigt Goerne mit Nachdruck, dass der gesenkte Kopf Wozzecks auf einem geraden Rücken sitzt.

Scharf konturiert

Ebenfalls lyrisch ausgerichtet, aber ein Tenor ist der junge Schweizer Mauro Peter, der den Andres zum Alter Ego Wozzecks macht. Ganz anders dagegen die Marie von Asmik Grigorian. Die Sopranistin aus Lettland ist eine Entdeckung allererster Güte: Ihre Diktion kann sich noch verbessern, aber ihre stimmliche Wandlungsfähigkeit, ihre Sicherheit in der weit gespannten Partie und ihre quirlige Spielfreude bringen helles Licht in die Produktion.

Nicht weniger scharf konturiert auch die Herren Gegenspieler zu Wozzeck: der Tambourmajor, den John Daszak mit glanzvollem Heldentenor gibt, der herrlich hypochondrisch gezeichnete Hauptmann von Gerhard Siegel und der eitle, zynische Doktor von Jens Larsen. Dass Gewalt – hier die Gewalt, die Wozzeck erst Marie und dann sich selber antut – nicht immer, aber oft aus Prozessen der Unterdrückung resultiert, an diesem eindrucksvollen Abend lässt es sich wie in einer experimentellen Anordnung erkennen.