Jeder Herrscher ist auch Täter

Simon Stone krönt den diesjährigen Salzburger Premierenreigen mit einer streitbaren Neuinszenierung von Aribert Reimanns Oper «Lear». Die Produktion hebt die Trennung zwischen Bühne und Publikum auf – sie geht jeden an.

Eleonore Büning, Salzburg
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Einer von uns: Lear (Gerald Finley) betritt die Bühne in der Salzburger Felsenreitschule. Er ist spät dran. (Bild: Salzburger Festspiele / Thomas Aurin)

Einer von uns: Lear (Gerald Finley) betritt die Bühne in der Salzburger Felsenreitschule. Er ist spät dran. (Bild: Salzburger Festspiele / Thomas Aurin)

Ein Politiker, dem die Macht zu Kopfe stieg: Er verliert den Durchblick und die Fasson, seine Parteigänger gewinnen an Geschmeidigkeit, und zwecks Machterhalt muss möglichst auch noch alles in der Familie bleiben. Dieses Szenario ist fast so alt wie die Menschheit, es brachte sie häufiger an den Rand der Katastrophe, und wer sich dieser Tage durch die Nachrichten zappt, wird nicht viel Mühe haben, den Lear, den Cornwall, aber auch Albany und alle möglichen Edmunds von heute zu identifizieren.

Zum Glück hat sich Simon Stone, der die Regie für die letzte Opernpremiere der diesjährigen Salzburger Festspiele übernahm, nicht zu billigen Parallelen hinreissen lassen. Es ist erst das zweite Mal, dass dieser junge Theatermann, der es mit den Texten, den Figuren und dem Handwerk plötzlich wieder so verblüffend genau nimmt, eine Oper inszeniert: nach einer fulminanten «Toten Stadt» am Theater Basel – und das erste Mal überhaupt, dass er in Salzburg arbeitet.

Der Trump-Clan kommt in seiner szenischen Darbietung der Oper «Lear» von Aribert Reimann nicht vor. Nur einmal, im zweiten Teil, steht plötzlich eine mannsgrosse Mickey Mouse im Weg herum. Hat sich aus Disneyland in die Felsenreitschule verirrt, hält dort stumm Luftballons feil. Aber sie wird musikalisch gebraucht, kommt sogar im Libretto vor, sie ist also eine echt partiturtreue Maus: Lear, herumirrend auf freiem Feld, füttert sie mit geröstetem Käse, hektisch lispelnd, rezitativisch gerahmt von schmerzvoll ineinanderrutschenden und vielfach geteilten Streicherlinien. Er hat sich, während die Töchter, die ihn verrieten, längst samt Gefolgschaft im Blutrausch schwelgen, in den Wahnsinn geflüchtet.

Lear ist kein Opfer

Der Bariton Gerald Finley ist ein Lear nach der neuen Salzburger Art: ein Hiesiger, Heutiger, er kommt wie Jedermann aus unserer Mitte. Stakst zu Beginn, als selbstbewusst Zuspätkommender, im weissen Dinner-Jacket durchs Festspielpublikum, erklimmt den breiten Bühnensteg und grüsst jovial in die Runde. Charismatisch und spektakulär ist Finleys Gestaltung der Partie: farbenreich und volumenstark, auch wild und vital, gänzlich ungreisenhaft. Zuweilen wirkt er gar komödiantisch, wie sein eigener Narr.

Eine kathartische Vereinnahmung verweigert uns dieser Mistkerl in den allerbesten Macht-Jahren, schon allein deshalb, weil man ihn nicht sympathisch finden muss. Es gab bereits etliche grosse Vorgänger in dieser komplexen Titelrolle, die vor fast 40 Jahren von Dietrich Fischer-Dieskau bei der «Lear»-Uraufführung in München aus der Taufe gehoben wurde: von Werner Haseleu über Bo Skovhus bis Wolfgang Koch. Sie alle haben, Dieskaus Diktum folgend, den Lear im Spiegel seiner Tragödie gezeigt, als Opfer der eigenen Irrtümer und einen, «der in Einsamkeit verkommt», weil er anderen Menschen nicht zuhört.

Blütenträume, ausgeträumt: Lear (Gerald Finley) versteht die Welt nicht mehr. (Bild: Salzburger Festspiele / Thomas Aurin)

Blütenträume, ausgeträumt: Lear (Gerald Finley) versteht die Welt nicht mehr. (Bild: Salzburger Festspiele / Thomas Aurin)

Doch Lear ist nicht nur Opfer, er ist zugleich Täter, mit gemischter Identität und getrieben von Widersprüchen. Diese realistische neue Lesart wird übrigens von Shakespeares Vorlage gedeckt, wie auch von Reimann und dessen getreuem Librettisten Claus Henneberg. Stone führt das gleich in der zweiten Szene schockartig vor, indem er Lears Abschiedsfest bei Hofe, das in einem quer und breit durch die Felsenreitschule angelegten Wildblumengarten stattfindet, ausarten lässt in eine unerträglich widerwärtige Orgie der Inhumanität, die, im Vorgriff auf das Kommende, die gewaltsame Vernichtung von Mensch und Natur billigend in Kauf nimmt: Hunderte von Topfpflanzen werden in diesem prachtvollen, von Bob Cousins entworfenen Bühnenbild von dem koksenden, vögelnden, saufenden Hofstaat-Volk, das sich bis aufs peinliche Schiesser-Doppelripp entkleidet (oder darüber hinaus), entwurzelt und zertrampelt.

Während der schlagzeugzerfetzten, menetekelhaft dröhnenden Sturm-Arie des Lear braust aus dem Bühnenhimmel der Salzburger Schnürlregen herab und verwandelt das Beet in Matsch. Und rund 150 Statisten, die diese Bescherung, als Festpublikum fein herausgeputzt, stoisch gelassen begutachten müssen, die Verwüstung einrahmend, in unmittelbarer Spritzweite auf den Tribünen der Arkadenseite in der Felsenreitschule sitzend, werden später logischerweise, so wie Lear anfangs aus dem Publikum heraufstieg, ihrerseits einer nach dem anderen hineingezogen in das blutige Geschehen. Das ist keine altmodische Publikumsbeschimpfung, auch keine selbstreferenzielle Materialschlacht: Vielmehr wird an diesem Abend die Aufhebung der vierten Wand zwischen Bühne und Publikum auf überwältigende Weise Ereignis.

Am Ende: Lear (Gerald Finley) mit seiner verstossenen Tochter Cordelia (Anna Prohaska). (Bild: Salzburger Festspiele / Thomas Aurin)

Am Ende: Lear (Gerald Finley) mit seiner verstossenen Tochter Cordelia (Anna Prohaska). (Bild: Salzburger Festspiele / Thomas Aurin)

Das passt bestens zu dem, was Aribert Reimann über sein Meisterwerk zu sagen pflegt: Jeder von uns könnte Lear sein. Und die Wucht der Klangsensationen, die Franz Welser-Möst aus dem Orchestergraben branden lässt, drückt jeden von uns in den Sitz. Erstaunlich, zu welcher musikalischen Grenzerfahrung die Wiener Philharmoniker bereit sind – und doch klingen sie immer noch überwältigend «schön», selbst wenn eine Instrumentengruppe (das Schlagzeug) die andere (Bratschen und Kontrabässe) fast erschlägt. Im zweiten Teil der Oper, als das grosse Schlachten beginnt, bleibt die Bühne nackt und kahl, bis auf eine gewaltige Blutlache.

Das Licht führt jetzt Regie, es illuminiert vereinzelte Einzelne. Und nach der kurzen, schreckensreichen Verdichtung der Simultanszenen, in denen einerseits die grässliche Goneril (Evelyn Herlitzius) dunkel bläsergrundierte Koloraturen ausspuckt, andererseits die liebliche Cordelia (Anna Prohaska) violinenselig barmt, der arme Gloster dagegen, geblendet und lebensüberdrüssig, vergebens in einen Shakespeareschen Nicht-Abgrund springt, löst Stone das Geschehen nach und nach ins Konzertante auf.

Die Herlitzius, ausser sich, singt glänzend, als wär's die Rolle ihres Lebens. Gun-Brit Barkmin steht ihr als Reagan nicht nach an Glanz, Dämonie und Fülle. Anna Prohaska ringt, zumal in der doch eigentlich leicht erreichten Höhe, um Wärme und Ausstrahlung. Sämtliche Männerrollen sind ausgezeichnet besetzt, wobei Kai Wessel als Edgar hervorgehoben sei, einziger Gutmensch weit und breit, mit seiner zwar zauberischen, aber doch irrealen Sonderrolle.

Es geht wieder um etwas

Gewiss ist es mehr als überfällig, dass die Salzburger Festspiele erstmals ein abendfüllendes Werk von Reimann zeigen. Man kann auch nicht behaupten, dass sie, nach 28 Neuinszenierungen seit der Uraufführung weltweit, mit dieser Werkwahl die Nase vorne hätten. Aber dass diese Produktion musikalisch und szenisch so dicht gelungen ist und jeden etwas angeht, das wirkt wie ein Fanal: Es geht jetzt wieder um etwas in Salzburg.