Bochum – Seit Gerard Mortier vor 15 Jahren die Ruhrtriennale als alljährliche kulturelle Frischzellenkur für das Ruhrgebiet etablierte, ist der Bochumer Jahrhunderthalle eine respektable Alterskarriere als Kunsttempel zugewachsen. Johan Simons hat heuer sein letztes Jahr als Intendant ebendort mit Debussys Pelléas et Mélisande eröffnet. In dieser XXL-Halle muss man allerdings – allen Möglichkeiten für Projektions- oder Verstärkertechnik zum Trotz – Musik und Aktion ins rechte Verhältnis setzen.

In diesem Jahr ist der Ausstatterin des polnischen Regisseurs Krzysztof Warlikowski, Malgorzata Szczesniak, das Kunststück gelungen, das Gegenteil des Offensichtlichen zu imaginieren: beklemmende Enge in einem rätselhaften Schloss, gar einer Grotte, statt der Weite dieses sehr speziellen Theaterraumes.

Weit hinter der Spielfläche sind die Bochumer Symphoniker wie ein Salonorchester vor einer geschwungenen Treppe aufgebaut. Darüber eine breite Projektionswand. Parkettboden, edel verkleidete Wände, Türen für die Auf- und Abgänge der Familie und ihres Personals. Weiter vorn ein Bartresen mit Barkeeper am Zapfhahn. Und ein Bildschirm mit Vollmond, Wolken und für Ausschnitte aus Hitchcocks Die Vögel. Zu dieser Welt "da draußen" gehören auch die Waschbecken vor einer Kachelwand.

Sylvain Cambreling spielt am Pult seine Debussy-Liebe und -Erfahrung in einem inneren Diskurs mit Wagner aus, ohne daraus gleich einen betont französischen Anti- (oder Post- oder wie auch immer)Tristan zu machen. Er beließ dem Werk sein eigenständiges, dunkles Leuchten. Und lud das Ganze so mit der Spannung auf, die bei der Übertragung der symbolistisch märchenhaften Geschichte in einen Psychokrimi über Beziehungen und Obsessionen im eher großbürgerlichen Milieu gleichsam von selbst entsteht.

Bei Warlikowski stehen die ausgeflippte Mélisande und der Macho Golaud (und nicht dessen sensibler Bruder) im Zentrum. Die Zuneigung, die Mélisande zu Pélleas entwickelt, bleibt am Rand und eine Projektion in den Augen Golauds. Sie wächst sich zu einer todbringenden, brudermordenden Eifersuchtsattacke aus. Der Rollendebütant Leigh Melrose hat stimmlich wie darstellerisch das Potenzial, hinter Golauds Zuneigung die Unbeherrschtheit aufblitzen zu lassen. Auch Barbara Hannigan ist als (rollenerfahrene) Mélisande eine Klasse für sich!

Alle Talente dieser Ausnahmekünstlerin kommen zum Leuchten: wenn Golaud die am Boden Zerstörte an der Bar aufgabelt und stürmisch über sie herfällt. Wenn sie sich fremdelnd der Tischordnung anzupassen versucht. Oder wenn sie sich auf den Schoß des reservierten, aber gütigen Arkel flüchtet. Franz-Josef Selig ist als dieser ebenso überzeugend wie Sara Mingardo als die Sitte hütende Geneviève oder Phillip Addis als jungenhafter Pelléas.

Musikalisch fordert der Raum bei der Steuerung der Mikrofone zwar immer mal seinen Tribut, gleichwohl gelingt ein szenisch und darstellerisch bemerkenswerter Auftakt der diesjährigen Ruhrtriennale. (Joachim Lange, 25.8.2017)