Hoppla!

Kann es sein, dass von dieser Rezension 40% fehlen? Das kann doch kein Zufall sein ... Aktionstag gegen die Sparmassnahmen und «Le Grand Macabre» am Luzerner Theater.

Das freut natürlich, bloss: Dass es sechs Jahre dauern musste, bis der Leidensdruck gross genug war, dass den Einwohnerinnen und Einwohnern das Wasser buchstäblich bis unter die Nase steigen musste, bis sich rund 1300 Personen auf den Theaterplatz bequemen, das ist irgendwie schräg. Trotzdem generiert die Landsgemeinde, diese Ur-Form der direkten Demokratie, Gänsehaut. Der Anlass war perfekt organisiert, kurz und dicht, unmissverständlich und klar. Erneut bedankt sich Marco Sieber beim Luzerner Theater, erinnert erneut daran, das Strassenkunstwerk nicht zu betreten - und zum Dank für den Hinweis winken Intendant und Dramaturgin aus einem der Fenster im zweiten Stock.

 

18.30 Uhr

Beat Züsli und/oder Reto Wyss dürfen das pinke Band durchschneiden, das die Strassenkunst vor dem Theater vor der demonstrierenden Masse geschützt hat. Tische und Bänke werden herbeigeschafft, die geladenen Premierengäste dürfen sich ein pinkes Armband abholen - free drinks! Der politische Mikrokosmos, der innert zweier Stunden auf den Theaterplatz projiziert wurde, liess einen das Konzentrat des Gefälles erleben: Geschätzte 1300 Luzernerinnen und Luzerner demonstrieren gegen die kantonalen Sparmassnahmen. Eine knappe Stunde später drängen sich gefühlte 130 Stadtpräsidenten, Baudirektorinnen und Bildungsdirektoren an die «Tafel für alle». Zu ihnen gesellten sich dann auch der Intendant und die Dramaturgin, die zuvor bei der Demonstration lediglich huldvoll aus dem Theaterfenster gewinkt hatten.

Frei nach dem Motto #sichtbarmachung wurde im Konzentrat sichtbar, was wir im Alltag nur in homöopathischen Dosen erleben: Bürgerinnen und Bürger dürfen sich zwar versammeln und ausdrücken, aber das Betreten der Arena ist doch verboten.

Aber: Die Zahl der Demonstrierenden verzehnfacht sich alle vier Wochen: Gingen am 11.8.

Übrigens: Spart man bei Jim Knopf 40%, resultiert daraus «Jim Knopf und die wilde 7.8».

Spart man bei Schneewittchen 40% ergibt das «Schneewittchen und die 4.2 Zwerge».

 

19.30 Uhr

Wir dürfen ob all dieser Politik nicht vergessen, dass ja auch die Saison 17/18 des Luzerner Theaters am Freitag eröffnet wurde! Wie schon letztes Jahr eröffnet eine Oper die Spielzeit, wiederum ist die Oper eine Kooperation mit dem Lucerne Festival.

Dieses Jahr steht mit «Le grand macabre» von Gyögry Ligeti ein Stück auf dem Programm, das zwischen Komik, Absurdität, Kalauern aller Art, aber auch berückend schöner Musik, tragischer Beziehungsstrukturen und gewaltigen Problemen changiert: Zwei Liebende bauen sich in einem Grab ein Liebesnest, der grössenwahnsinnige Nekrotzar will die Welt untergehen lassen, eine sadistische Ehefrau peitscht ihren Mann Astradamos aus, der überforderte Fürst Go-go geniesst Reitstunden mit seinen Ministern.

Da stehen Marimbas, Trommeln und Tamtams, aber auch Fahrradklingeln und Hupen, ein Cembalo und ein Klavier. Die Musiker, heute wegen des erwähnten Schlagwerks teilweise auf der Bühne, tragen Outfits, auf die ABBA neidisch gewesen wären. Da torkelt Piet vom Fass auf die Szene: «Dies irae, dies illa, goldnes Breughelland!» Des Berufsalkoholikers Hymne auf seine Heimat wird jäh unterbrochen: Dem rechteckigen Loch im Boden entsteigen Amanda und Amando (Karin Torbjörnsdóttir). Die beiden Liebenden können kaum die Finger voneinander lassen und singen ein betörend schönes Duett. Riesberg und Torbjörnsdóttir überzeugen nicht nur stimmlich, sondern auch schauspielerisch: Mit einer Mischung aus Koketterie, Unerfahrenheit und Verruchtheit umgarnen sie sich nonstop.

Le Grand Macabre, Luzerner Theater

Bild: Ingo Hoehn

«Le grand macabre» überquillt vor musikalischer Reminiszenzen: Bizarre Rezitative, schrille Avantgarde und Cancan-Zitate jagen sich quer durch die Partitur, die von Clemens Heil und dem Luzerner Sinfonieorchester präzise und lustvoll dargeboten wurde. Auch das ist eben Teil der Identität: Abgesehen davon, dass sich «Le grand macabre» nahtlos einreiht in die wirklich grossartigen Eigen- und Koproduktionen des diesjährigen Sommerfestivals, gehört es auch zu einer konsequenten Identitätsfindung, politische Statements zu wiederholen und mutig zu vertreten. So wurde auch die zweite Hälfte der Oper zunehmend fritschiger: Die Minister (wunderbar komisch: Remy Burnens und Bernt Ola Volungholen) rennen sich die Köpfe ein, der Einsatz der Sänger als Schauspieler wurde immer körperlicher.

Fritsch scheint Ligetis Intention und Sprache verstanden zu haben, und so war man an Stellen wie der Kauderwelschrede des Fürsten fast unsicher, aus wessen Fehler die Kalauer stammen. Besonders die Gepopo-Partie überrascht immer wieder mit hohen, schrillen Tönen – und Schnürpel traf sie alle. Fast hysterisch gackernd mutet der Part an, und so scheint es auch durchaus sinnig, dem Gepopo einen knallgelben Hahnenkamm zu verpassen.

Nach Nekrotzars Versuch die Welt durch einen Kometen zu zerschmettern, wähnt man sich in Ligetis «Atmosphères»: Schimmernde Klangflächen bilden den Teppich für ein entrücktes Terzett aus Fürst Go-Go, Piet vom Fass und Astradamos. Fassungslos staunend stehen die drei da, und wiegen in Zeitlupe ihre Köpfe hin und her.

Weitere Aufführungen: http://www.luzernertheater.ch/legrandmacabre