Was ein tiefsinniger Analytiker aus Mozarts Oper «Lucio Silla» macht

Am Theater Basel hat der Regisseur Hans Neuenfels ganze Arbeit geleistet: Er befreit Mozarts frühe Oper «Lucio Silla» von ihrer Holzschnitt-Dramaturgie.

Christian Wildhagen, Basel
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Die Geier warten schon: Lucio Silla (Jussi Myllys) hadert mit seiner Macht als römischer Diktator – mehr noch aber mit sich selbst. (Bild: Sandra Then)

Die Geier warten schon: Lucio Silla (Jussi Myllys) hadert mit seiner Macht als römischer Diktator – mehr noch aber mit sich selbst. (Bild: Sandra Then)

Es war die Opernproduktion dieses Festival-Sommers: «La clemenza di Tito», Mozarts eigenartig verspäteter Beitrag zur überwundenen Form der Opera seria, wirkte an den Salzburger Festspielen so frisch und frappierend gegenwärtig, dass einem der Atem stockte. Dies lag freilich auch an der Regie von Peter Sellars, der das Geschehen kühn auf das moralische Dilemma des Sesto zuspitzte – jener verstörend modern anmutenden Figur des Attentäters also, der zur Lösung seiner privaten Probleme einen veritablen Cäsaren-Mord begehen will (und ihn bei Sellars auch wirklich vollzieht).

Als hätten sie den Erfolg der angemessen kontrovers diskutierten Aufführung vorhergesehen, ist in diesem Jahr gleich an mehreren Bühnen Mozarts sonst eher rares Spätwerk zu sehen, aber auch seine erste Bearbeitung desselben Themas in der frühen Seria «Lucio Silla» KV 135. Auf Produktionen in Brüssel und Biel-Solothurn folgte jetzt zur Saisoneröffnung am Theater Basel eine Neuinszenierung durch Hans Neuenfels. Dessen Regie verschiebt auf raffinierte Weise die Perspektive.

Sulla und Silla

Während Sellars im «Titus» die heikle Frage aufwarf, ob Attentäter unter bestimmten Vorzeichen unser Verzeihen verdienen (und diese Frage schliesslich recht pessimistisch beantwortete), stellt Neuenfels die Gestalt des Verzeihenden selbst in den Fokus. Dessen historisch verbürgtes Vorbild, der römische Diktator Lucius Cornelius Sulla, ist mit einem «Ermächtigungsgesetz», das düstere Assoziationen weckt, und endlosen Proskriptionslisten als blutbesudelter Tyrann in die Geschichte eingegangen. Mozarts Silla hingegen erscheint als ein Herrscher, der bereits mit ähnlich aufklärerischer «clemenza» gesegnet ist wie der neunzehn Jahre später von ihm geadelte Titus. Deshalb vermag Silla den beiden Verschwörern Cecilio und Cinna zu vergeben, die ihm beide nach dem Leben trachten. Mehr noch: Aus Einsicht und Überdruss am Tyrannendasein verzichtet Silla am Ende sogar auf die Macht. Und hier schlägt Neuenfels' Stunde.

Der tiefsinnigste Analytiker des modernen Musiktheaters weiss nämlich aus Erfahrung, dass er um jeden Preis lebendige Charaktere aus den singenden Pappkameraden modellieren muss, die uns das typische Seria-Libretto von Giovanni De Gamerra anbietet. Dies bedeutet nichts Geringeres, als die Oper von ihrer Holzschnitt-Dramaturgie zu befreien – war es dem damals sechzehn Jahre alten Mozart doch noch nicht möglich, wie später beim «Titus» redigierend und radikal verdichtend («ridotta a vera opera») in das vorgefertigte Textbuch einzugreifen.

Flüssige Tempi

Dies besorgen nun Neuenfels, sein Dramaturg Henry Arnold und der Basler Musikdirektor Erik Nielsen an seiner Stelle, und sie sind dabei nicht zimperlich. Von den gut vier Stunden, die das Werk laut Leopold Mozart 1772 bei der Mailänder Uraufführung gedauert hat, sind in Basel weniger als drei übrig geblieben. Dabei wird nicht bloss kräftig in den Rezitativen gekürzt, es wird auch, im Vorgriff auf Entwicklungen der späteren Opern, manches Dacapo geopfert und die ein oder andere Nummer durch ein Attacca verbunden. Nielsens Wahl flüssiger Tempi und seine stark rhetorisch aufgebrochene Phrasierung, die das klein besetzte Sinfonieorchester Basel engagiert umsetzt, gehen dabei stimmig Hand in Hand mit der Vertiefung der Figuren durch die Regie.

Wo der alles und jedem verzeihende Titus bei Sellars mehr und mehr Christus-ähnliche Züge annimmt, changiert die Milde des Silla bei Neuenfels zwischen Ennui und Resignation. Schon früh im ersten Aufzug hat die Inszenierung obendrein den wunden Punkt des Diktators offengelegt: Seine Allmacht ist eine Illusion, er wird selber beherrscht, und zwar von der Lust. Da er bei der angebeteten Giunia, der Tochter seines getöteten Widersachers Marius, nicht landen kann, befriedigt er sein übermächtiges Verlangen regelmässig in einem Kabinett mit einer mannshohen Vulva.

Ein Zug ins Surreale

Der für Neuenfels typische Zug ins Surreale und Entlarvend-Ironische setzt sich fort: in dem Machtsymbol des Adlers, der ausgestopft und ziemlich machtlos in der Mitte der Bühne (Entwurf: Herbert Murauer) baumelt. Beim hervorragenden Chor des Theaters, der das opportunistische Volk verkörpert, mutiert der einst stolze Vogel zum Geierkopf – eine Anspielung auf die bitterbösen Rattenkostüme, die Neuenfels einst der willenlosen Masse im Bayreuther «Lohengrin» verpasst hatte. Man mag es diesem Silla, den Jussi Myllys szenisch glaubhaft, aber mit etwas farbarmem Tenor verkörpert, kaum verdenken, dass er für die Sensationsgierigen nicht länger den Herrscher mimen will, der in der Arena des Lebens den Daumen hebt oder senkt.

Dass ihn die doppelte Entsagung – von der Macht, von der Liebe – einiges kostet, verdeutlicht Neuenfels in der starken Schlussszene, indem er zum Jubelchor des Volkes Sillas wahre Gedanken («Bin ich ein erlegter Held?») auf ein irreal im Raum schwebendes schwarzes Quadrat projiziert.

Botschaft aus dem Paradies

Auch zuvor kehrt die sublimierte Regie immer wieder in beredten Bildern das Innenleben der Protagonisten nach aussen. Etwa wenn sie Giunia (die höhen- und koloraturensichere Hila Fahima) und ihren Geliebten Cecilio (engagiert und stilsicher gesungen von Kristina Stanek) die Erfüllung ihrer gefährdeten Liebe in einem Paradiesgarten finden lässt. Dieser steht wie ein weltentrücktes Biotop inmitten jenes Repräsentationsraums der Macht, der gleichermassen an das Pantheon in Rom wie an das Capitol in Washington erinnert. Ob der Herrscher dort die Botschaft versteht?