Erlösung in der Himmelsspirale: Achim Freyer deutet Wagners «Parsifal»

Der Bühnenverzauberer Achim Freyer hat an der Hamburgischen Staatsoper eine Bilderwelt erfunden, die es an Suggestionskraft mit Wagners Wunderwerk aufnehmen kann.

Julia Spinola, Hamburg
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Tödliche Verführung: Zauberer Klingsor (Vladimir Baykov) und seine Blumenmädchen (Bild: Hans Jörg Michel / Hamburgische Staatsoper)

Tödliche Verführung: Zauberer Klingsor (Vladimir Baykov) und seine Blumenmädchen (Bild: Hans Jörg Michel / Hamburgische Staatsoper)

Der Komponist Maurizio Kagel träumte davon, die Musik des «Parsifal», Wagners «Sehnsucht nach dem Absoluten», in Bayreuth einmal in der radikalsten Inszenierung der Musik verwirklicht zu sehen, die man sich vorstellen kann: auf vollständig dunkler Bühne, als einen «Triumph der reinen Vorstellungskraft». Darin steckte fraglos auch eine Polemik gegen das ermüdende Steh- und Rampensingtheater, das lange Zeit die Inszenierungstradition beherrschte. Tatsächlich aber grenzt die Aufgabe, den im «Parsifal» auskomponierten Innenwelten eine szenische Entsprechung zu geben, ans Unlösbare.

So fluide ist das motivische Netz aus Vorahnungen und Erinnerungen, das Wagner hier beziehungszauberisch webt, so abgründig, morbide und stets nah an der Auflösung bewegt sich diese Musik in ihrer Neigung zur harmonischen Verflüssigung und zur Verräumlichung der Zeit, dass die Versuche, sie in einem Bühnengeschehen bildlich zu fixieren, meist unendlich banal und wie ernüchternde Begrenzungen wirken. An der Hamburgischen Staatsoper hat nun der tiefsichtige Bühnenverzauberer Achim Freyer eine szenische Bilderwelt erfunden, die es an Suggestionskraft tatsächlich mit Wagners «einzigem Wunderwerk» (wie Alban Berg die «Parsifal»-Partitur nannte) aufnehmen kann.

Auf der Via dolorosa

Das Geschehen spielt auf den verschiedenen Ebenen einer grossen Spirale, die sich durch Spiegelungen nach oben und unten ins Unendliche fortzusetzen scheint. Zahlen und Buchstaben an verschiedenen Stationen des Spiralweges erinnern an eine astronomische Zeichnung. Zugleich erscheint dieses Welterklärungsmodell auch als Leidensweg, als eine Via dolorosa. Auf den schwarzen Bühnenwänden haben die Protagonisten sich mit ihren Obsessionen und Wünschen in Graffiti-ähnlichen Kritzeleien verewigt.

Projektionen auf einem transparenten Vorhang, Lichteffekte und Farbwechsel schaffen auf schwindelerregende Weise die Illusion einer Bewegung in je neue Dimensionen dieses zugleich in sich geschlossen und grenzenlos erscheinenden Kosmos hinein. Es ist ein in sich stimmiger und doch utopischer Raum, der sich wie eine der perspektivisch unmöglichen Unendlichkeitsspiralen von M. C. Escher in die Höhe schraubt. Sinnfälliger kann man den Entwicklungsweg der nach Erleuchtung strebenden Gralsritter kaum zeigen, suggestiver lässt sich Wagners Verräumlichung der Zeit optisch kaum entsprechen.

Ein Schelm, wer da an die Kuppel des Berliner Reichstages denkt: Achim Freyers bildmächtige Deutung von Wagners «Parsifal». (Bild: Hans Jörg Michel / Hamburgische Staatsoper)

Ein Schelm, wer da an die Kuppel des Berliner Reichstages denkt: Achim Freyers bildmächtige Deutung von Wagners «Parsifal». (Bild: Hans Jörg Michel / Hamburgische Staatsoper)

Auch Hamburgs Generalmusikdirektor Kent Nagano hat das Geheimnis dieser Partitur, ihren paradoxen Umgang mit der Zeit, genau verstanden. Trotz insgesamt überwiegend zügiger Tempi klingt sein «Parsifal», als sei er den chronometrischen Gesetzen der Dauer auf wundersame Weise enthoben, zugleich jedoch ungewohnt ernst, nachdenklich, introvertiert. Und das Philharmonische Staatsorchester spielt transparent, nuancenreich und beseelt, als wolle es noch den letzten Rest Erdenschwere abstreifen und das musikalische Gewebe gänzlich in Licht und Farbe auflösen.

Trickfilmreif

Freyer hält nichts von Aktualisierungen, und doch blickt er mit seinen puppenhaft drastisch geschminkten und kostümierten Bühnenfiguren tiefer in das Rätsel dieser pseudoreligiösen Entwicklungsgeschichte um den «reinen Toren», als mancher andere. Seine überdeterminierten Bilder öffnen weite Assoziationsräume. Da ist die sinnenfeindliche Welt der schwarz uniformierten Gralsritter, die allesamt mit Werkzeug in der Hand am grossen Ganzen des Weltentwurfs arbeiten.

Gurnemanz ist ihr Superhirn: ein mit höherer Vernunft begabter doppelköpfiger Denker, der das Modell der Spirale auf seinem Kopf trägt. Kwangchul Youn verleiht ihm imposante Basswärme. Titurel erscheint als gesichtsloser Greis im Rollstuhl, dem der Kopf unter der Last seines übergrossen Papsthutes wegknickt. Und der leidende Amfortas (mit prägnant rauer Tongebung: Wolfgang Koch) schleift seinen verwundeten Leib als Puppenköper vor sich her. Die Arme zur Kreuzsymbolik ausgebreitet, wird er von zwei Ku-Klux-Klan-Rittern gestützt. Später legt er den Puppenleib ab, reisst sich die blutigen Laken vom Leib, bis sich die Wunde trickfilmreif schliesst.

Blumenmädchenbuntheit

Klingsor (Vladimir Baykov) ist ein böser Varieté-Zauberonkel mit Teufelshörnern und obszön heraushängender Zunge. Er trägt seine grosse rosa Krawatte vor seiner Kastrationswunde wie ein Exhibitionist und manipuliert die Welt per Fernbedienung. Die Blumenmädchen beginnen auf sein Kommando als rosa Sex-Schweinchen mit aufgeblasenen Brüsten zu tanzen.

Aber nicht nur das pornografisch aufs Sexuelle fixierte Klingsor-Reich, sondern auch die lustfeindliche Gralsritterwelt wird von perversen Missbrauchsritualen beherrscht. Der Tod persönlich schiebt hier in einer Schubkarre einen Kinderkopf über die Bühne. Wenn der Gral enthüllt wird, überquert ein Kind im weiss leuchtenden Reifrock die Bühne in entgegengesetzter Richtung. Man erahnt ein gruseliges Selbstverjüngungsritual der Gralsritter.

Wahn-Sinn: Andreas Schager als Parsifal in Hamburg. (Bild: Hans Jörg Michel / Hamburgische Staatsoper)

Wahn-Sinn: Andreas Schager als Parsifal in Hamburg. (Bild: Hans Jörg Michel / Hamburgische Staatsoper)

Einzig Kundry (intensiv und durchdringend: Claudia Mahnke) und der narrengleiche Parsifal des heldentenoral strahlenden Andreas Schager vermitteln zwischen den Welten. Mit dem Karfreitagszauber kehrt etwas von der Blumenmädchenbuntheit auf sublimierter Ebene wieder. Kundry stirbt nicht, sondern wird von Parsifal gekrönt. Als Paar tragen sie am Ende die Last der Welt, wenn die ganze Spiralkonstruktion in sich zusammenfällt. «Anfang» steht in grossen Lettern auf dem Gazevorhang. So hoffnungsvoll hat man dieses Ende noch nicht gesehen.