Mit Bubikopf im Elysium

Mit der Neuinszenierung von Franz Schrekers grosser Oper «Die Gezeichneten» verdient sich das Theater St. Gallen den Preis für den mutigsten Start in die neue Saison.

Christian Wildhagen, St. Gallen
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Alviano Salvago (Andreas Conrad) und die Malerin Carlotta (Claude Eichenberger) sind «Gezeichnete» an Leib und Seele. (Bild: Iko Freese / Theater St. Gallen)

Alviano Salvago (Andreas Conrad) und die Malerin Carlotta (Claude Eichenberger) sind «Gezeichnete» an Leib und Seele. (Bild: Iko Freese / Theater St. Gallen)

In der Frauenbewegung hat die Glasglocke seit langem Konjunktur. Entlehnt bei dem gleichnamigen Kultbuch von Sylvia Plath, bezeichnet dieses Bild heute zumeist das Phänomen, dass der Prozess der Emanzipation immer wieder an unsichtbare Schranken zu stossen scheint – sei es an solche eines unterschwelligen gesellschaftlichen Widerstands oder auch an eigene subjektive Grenzen. Jede dieser gläsernen Wände, ganz gleich, wo ihre Ursprünge liegen, scheint nur das eine Ziel zu verfolgen, die volle Gleichstellung der Geschlechter zu verhindern. Das Bild ist so plastisch, dass man versucht ist, sich die beredte Metapher beim Blick auf die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts für einige Momente auszuleihen. Denn auch hier gibt es offenkundig ein Glasglockenphänomen.

Jahrzehntelange Bemühungen, vor allem im deutschsprachigen Raum, haben zwar immer aufs Neue versucht, das Unrecht zu korrigieren, das die Kulturideologie der Nationalsozialisten in der Wirkungsgeschichte angerichtet hat. Doch alle die «Ausgrabungen» und «Wiederbelebungsversuche» ehedem verbotener Werke und ihrer Komponisten haben allenfalls zu einer verstärkten Wahrnehmung, in den seltensten Fällen aber zu einer echten Gleichstellung dieser Stücke im heutigen Musikleben geführt. Das Schaffen Gustav Mahlers stellt hierbei die eine, alles überstrahlende Ausnahme dar; wer sich freilich in der Operngeschichte der zwanziger und dreissiger Jahre umschaut, weiss, wie viel Vergessenes oder gerade erst Halbentdecktes hier schlummert.

Mutiger Saisonbeginn

Nicht einmal bei den Besten unter den verfemten Opernkomponisten jener Epoche kann die Rede davon sein, dass sie die Glasglocke der Rezeption wirklich durchstossen hätten. So ist man schon dankbar, dass etwa Alexander Zemlinsky zumindest mit seinen beiden Einaktern «Der Zwerg» und «Florentinische Tragödie» dauerhaft in die Spielpläne zurückgekehrt ist – auch wenn bei ihm weit mehr und Grösseres wiederzugewinnen wäre, zum Beispiel die herrliche Gottfried-Keller-Komödie «Kleider machen Leute».

Ähnliches gilt seit einiger Zeit für Erich Wolfgang Korngold, wenigstens für «Die tote Stadt», die 2016 exemplarisch in der Regie von Simon Stone am Theater Basel zu sehen war. Bei Franz Schreker, dem Kühnsten und Avanciertesten der drei, ist dagegen noch immer jede einzelne Aufführung ein wichtiger Schritt wider das Vergessen – Wagnis und Grosstat zugleich. In diesem Jahr gebührt deshalb dem Theater St. Gallen der Preis für die mutigste Saisoneröffnung der Saison.

Dass sich das programmatisch auch sonst wagemutige Mehrspartenhaus sogleich an «Die Gezeichneten» wagt, Schrekers überaus opulentes Seelendrama aus der Genueser Renaissance, entstanden 1914/15, legt freilich auch die Probleme solch ambitionierter Werkplädoyers an mittleren Häusern offen. Das kleine Theater kommt nämlich vor allem akustisch mit dem unter Michael Balke in (leicht reduzierter) Strauss-Stärke aufspielenden Orchester an hörbare Grenzen; freilich auch bei einigen Rollenbesetzungen.

Das tut dem Wert dieses von allen Beteiligten engagiert mitgetragenen Versuchs nicht den geringsten Abbruch, lässt aber umso mehr den Wunsch entstehen, es mögen endlich weitere grosse Opernhäuser ihrer musikgeschichtlichen und repertoirepolitischen Verantwortung nachkommen: nachdem in Frankfurt, am Ort der Uraufführung, schon mit der ersten Wiederaufführung 1979, in Zürich dann 1992 mit der Schweizer Erstaufführung und jüngst erst in Los Angeles, Köln, Lyon und München wegweisende Produktionen der «Gezeichneten» gelungen sind.

Zu viel Nietzsche

Wie sehr es sich lohnen würde, beispielsweise den einen oder anderen «Rosenkavalier» für dieses Schlüsselwerk der frühen Moderne zu opfern, erschliesst auch die Neuproduktion in St. Gallen. Antony McDonald deutet in seiner unaufgeregten, dezidiert werkdienlichen Inszenierung eine gewisse Spannung an zwischen der Handlungszeit, dem 16. Jahrhundert, und der Entstehungszeit im zu Ende gehenden deutschen Kaiserreich. Leider bleibt es bei den Andeutungen – die Idee, aus den Genueser Adligen um den Kraftmenschen Vitelozzo Tamare (herausragend: der junge Bariton Jordan Shanahan) eine Gruppe von ziemlich moralbefreiten Burschenschaftern zu machen, wäre unbedingt ausbaufähig.

Diese jungen Herren haben offenkundig zu viel Nietzsche gelesen und nehmen sich zur Befriedigung ihrer Lust, was und wen sie gerade kriegen können. Sie missbrauchen ungehemmt Genueser Bürgerstöchter – und das künstliche Eiland «Elysium», das der an Körper und Seele schwer gezeichnete Alviano Salvago als Traumort des Schönen, Wahren, Guten geschaffen hat. Nur betritt er selbst das artifizielle Paradies, aus Selbsthass und Angst vor ungewollter Profanierung durch die Realität, nie persönlich.

Zu dieser für Schreker so charakteristischen Gleichzeitigkeit von schillernden Phantasmagorien und einem derben, die Zeitoper der zwanziger Jahre vorwegnehmenden Naturalismus ist der Regie dann leide nicht viel mehr eingefallen, als das «Elysium» zu einem ordinären Bordell zu machen. Das ist naheliegend, inhaltlich nicht völlig falsch und greift dennoch zu kurz, weil es tatsächlich den hohen Idealismus des Stückes profaniert.

Autobiografisch?

Stimmiger gelingen die intensiven Szenen zwischen Alviano und der Malerin Carlotta, die sich um ihrer Kunst willen in den Hässlichen verliebt. Andreas Conrad gestaltet den kunstsinnigen Wiedergänger Rigolettos sehr frei im Umgang mit dem Notentext, aber glaubhaft in der Darstellung eines durch und durch gebrochenen Charakters.

Nicht weniger facettenreich und geheimnisvoll wirkt Claude Eichenberger als selbstbewusste Malerin, deren Maske samt zeittypischem Bubikopf dem Erscheinungsbild von Schrekers Frau Maria nachempfunden ist. Die autobiografische Parallele wird zwar von der Regie wiederum nicht ausgeführt. Klar wird aber auch so: Der Schöngeist Alviano ist ein Alter Ego des Komponisten, der im Scheitern seiner Bühnenfigur das Ende einer ganzen Epoche voraussah – seiner eigenen.