Im Käfig zur Freiheit

Die Neuproduktion von Donizettis «Lucia di Lammermoor» an der Opéra de Lausanne erfährt eine überzeugende, aber klar feministische Deutung.

Thomas Schacher, Lausanne
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Im internationalen Opernrepertoire nimmt «Lucia di Lammermoor» seit der Uraufführung von 1835 eine beherrschende Stellung ein. Die berühmte Wahnsinnsarie kennt jeder, und der sprichwörtliche Schmelz von Donizettis Melodien umgarnt den Melomanen auf der Stelle. Vom Inhalt der Oper her ist die Beliebtheit indes nicht ohne weiteres zu verstehen. Das Stück, dessen Libretto auf Walter Scotts Roman «The Bride of Lammermoor» zurückgeht, spielt im Schottland des 16. Jahrhunderts und entwickelt sich vor dem Hintergrund des Machtkampfs zwischen Protestanten und Katholiken.

(Bild: Alan Humerose / Opéra de Lausanne)

(Bild: Alan Humerose / Opéra de Lausanne)

Lucia, die Schwester von Lord Enrico Ashton, wird zum Spielball dieses Konflikts. Aus politischem Kalkül zwingt Enrico Lucia, Lord Arturo Bucklaw zu heiraten, doch Lucia liebt Edgardo aus dem feindlichen Lager der Ravenswood. Die Katastrophe ist somit vorprogrammiert.
Was hat diese Geschichte mit unserer heutigen Gesellschaft zu tun, in der Emanzipation und Gleichberechtigung der Frauen nicht nur leere Worthülsen sind? Der Regisseur Stefano Poda, der gleichzeitig für Kostüme, Bühne und Licht verantwortlich zeichnet, hat da eine klare Sicht. Er zeigt Lucia als Gefangene einer machtbesessenen Männerwelt. Zum Bruder und zum verordneten Bräutigam gesellt sich da auch noch der intrigante Raimondo. Aussagekräftiges Requisit dieser Gefangenschaft ist ein würfelförmiger Käfig, in dem Lucia ihre erste Arie singt.

Oper als Drama

Durch die Ermordung Arturos in der Hochzeitsnacht befreit sich Lucia von diesen Zwängen. In ihrer Wahnsinnsarie, in der sie wähnt, mit dem geliebten Edgardo vereint zu sein, vertauscht sie den engen Kerker mit einem gigantischen Kubus, dessen Rippen so weit auseinander stehen, dass er den Charakter eines Gefängnisses verliert. Am Schluss des Stücks entschwebt Lucia auf diesem Würfel, zusammen mit Edgardo, in die Höhe, in die Freiheit. Eine klar feministische Deutung also des Regisseurs.
Mit der Niederländerin Lenneke Ruiten in der Titelrolle geht dieses Konzept auch personell hervorragend auf. Ihr beweglicher Koloratursopran schlägt die wildesten Kapriolen, und noch in den höchsten Höhen kann sie die Stimme derart zurücknehmen, dass es einem den Atem verschlägt. Diese Lucia ist eine sehr zerbrechliche und gleichzeitig sehr starke Figur. Der Edgardo von Airam Hernández bewegt sich punkto Vielseitigkeit nicht ganz auf demselben Niveau. Als Kämpfer und als innerlich Zerrissener überzeugt der Tenor mehr als in den intimen Liebesszenen. Grossartig daher sein Duett im dritten Akt mit Enrico.

Dieser, von Àngel Òdena mit einem imperialen Bariton ausgestattet, erscheint ganz als kalkulierender Machtmensch. Ihm zur Seite steht der Geistliche Raimondo, Lucias «Beschützer», den Patrick Bolleire mit bald schmeichelnden, bald drohenden Tönen eindrucksvoll verkörpert. Ein als Waschlappen gekennzeichneter Charakter ist der Arturo von Tristan Blanchet. Und Cristina Segura gibt Lucias Dienerin Alisa als zwar hadernde, aber mit den Machthabern in stillem Einverständnis stehende Frau. Sie ist in der Oper die Antifeministin.

Oper ist Dramma per Musica; das Drama entsteht primär durch die Musik. Jesús López Cobos ist ein Dirigent, der das an der Premiere deutlich hörbar macht. Der Spanier, mit dem italienischen Belcanto-Repertoire bestens vertraut, hat einen untrüglichen Sinn für die musikalische Dramaturgie und setzt Spannung und Entspannung wirkungsvoll ein. Nicht nur die Sänger, auch der Chor der Opéra de Lausanne und das Orchestre de Chambre de Lausanne, dessen Chefdirigent López Cobos während zehn Jahren war, folgen ihm dabei mit Leidenschaft.

Ausbrechende Emotionen

Wenn am Schluss des zweiten Akts Edgardo ausgerechnet in dem Augenblick auftaucht, in dem Lucia den erzwungenen Ehevertrag mit Arturo unterschrieben hat, folgt erst einmal das Sextett, bei dem der Dirigent das Entsetzen der Protagonisten noch unter dem Deckel des Schönklangs gefangen hält. Erst danach, als Edgardo seine Geliebte vor aller Augen verflucht hat, lässt Jesús López Cobos die Emotionen der Betroffenen voll ausbrechen – und führt das Finale schliesslich zu einem ungebremsten Abschluss.