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Bühne und Konzert Musiktheater

Die Eiskönigin frisst ihre Kinder

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DEUTSCHE OPER BERLIN L'INVISIBLE Musikalische Leitung: Donald Runnicles Inszenierung: Vasily Barkhatov Bühne: Zinovy Margolin Kostüme: Olga Shaishemelashvili Darsteller: Annika Schlicht, Gelmer Reuter DEUTSCHE OPER BERLIN L'INVISIBLE Musikalische Leitung: Donald Runnicles Inszenierung: Vasily Barkhatov Bühne: Zinovy Margolin Kostüme: Olga Shaishemelashvili Darsteller: Annika Schlicht, Gelmer Reuter
Finale auf der Kinderkrebsstation: Aribert Reimanns "L'Invisible" kreist um Sterben, Tod und Trauer
Quelle: Bernd Uhlig
Atmosphärenzauber, sachlich bebildert: Der 81-jährige Aribert Reimann hat an der Deutschen Oper Berlin mit der Maeterlinck-Trilogie „L’Invisible“ sein neuntes Musiktheaterwerk uraufgeführt.

Ein „Bühnenweihfestspiel“? Eine „commedia lirica“, die mit der Feststellung „Alles ist Spaß auf Erden“ endet? Eine „fröhliche Werkstatt“ für Bläser, ein „Konversationsstück für Musik“ oder gar „Vier letzte Lieder“ für seine über alles geliebten Soprane?

Natürlich wird sich auch der Opernkomponist Aribert Reimann, der sich großer Literatur verpflichtet fühlt und zeitgemäß die Tradition von Richard Wagner, Giuseppe Verdi oder Richard Strauss fortschreibt, natürlich wird er sich so seine Gedanken gemacht haben, während er im vergangenen Jahr seinen 80. Geburtstag feierte. Er arbeitete an „L’Invisible“, seinem jüngsten Musiktheaterstück.

Erst die Worte, dann die Musik? Umgekehrt?

Spielte das Alter dabei eine Rolle, wollte er wirklich Bilanz ziehen? Wagner hat mit dem „Parsifal“ sein „Weltabschiedswerk“ verfasst. Verdi kehrte mit dem weltweisen „Falstaff“ zur Opera buffa zurück, die er nur einmal als junger Mann gestreift hatte, und schaute doch kompositorisch ins 20. Jahrhundert. Richard Strauss wollte als letzter Olympier, so sah er sich jedenfalls selbst, angesichts der brennenden Ruinen des Zweiten Weltkriegs sein Theaterverständnis ausdiskutieren. Erst die Worte, dann die Musik? Oder umgekehrt?

Aribert Reimann hat Potsdam brennen gesehen. Und er hat im Krieg seinen fünfjährigen Bruder verloren, dem er „L’Invisible“, seine jetzt an Berlins Deutscher Oper uraufgeführte neunte Oper, gewidmet hat.

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Er hat Strindberg, Goll, Euripides, Kafka, García Lorca vertont und Wagners Pathos auch für seine Opern verwendet. Anders als der daran gescheiterte Verdi hat er Shakespeares unerhörten „Lear“-Stoff in eine höchst erfolgreiche Oper verwandelt: 28 Produktionen seit 1978, besonders eindrücklich erst kürzlich in Paris und im Sommer bei den Salzburger Festspielen. Und so wie Strauss liebt Reimann die hohen Frauenstimmen.

Seine Heimatstadt Berlin liebt Aribert Reimann zurück. 2017 konnte er hier den kurzen Weg aus Schmargendorf zu gleich drei Musiktheaterpremieren mit eigenen Stücken fahren. Und eigentlich war seine – zunächst einmal – letzte Oper ebenfalls für das Haus Unter den Linden geplant. Doch weil das einfach nicht fertig werden wollte, wurde sie in aller Freundschaft nun an die Deutsche Oper transferiert, wo Reimann 1955 als 19-jähriger Korrepetitor seine Laufbahn begonnen hat und schon vier andere seiner Bühnenwerke in Auftrag gegeben wurden.

Drei Einakter über Tod und Sterben

Ironie der Ereignisse: Die Staatsoper hätte sie jetzt wunderbar spielen können, weil Wolfgang Rihm über seinem „Saul“ mit einem Libretto von Botho Strauss schwer erkrankte und das Stück nicht fertig wurde zur Staatsoperneröffnung. Und zudem bringt die Komische Oper demnächst mit Debussys „Pelléas et Mélisande“ das bekannteste Werk des 1911 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten, aber längst vergessenen belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck heraus, den sich auch Reimann als aktuellen Librettolieferanten auserkoren hatte.

„L’Invisible“, so nennt Aribert Reimann also seine „Trilogie lyrique nach Maurice Maeterlinck“. Es ist seine erste Oper in schmiegsamem Französisch, sie besteht aus drei schon durch die Besetzungsvorgaben verknüpften Einaktern, die alle um das Thema Tod und Sterben kreisen.

Sie ist mit 85 Minuten Spieldauer sehr kurz und bündig geworden. Und sie hört sich sehr leise und zart an, kommt fast ganz ohne die gewaltigen, von Reimann sonst gewohnten Perkussionsausbrüche aus. Auch ohne die Kaskaden von Vokalmelismen, die oftmals die Reimann-Figuren in ihrer Erregtheit förmlich ausspeien.

DEUTSCHE OPER BERLIN L'INVISIBLE Musikalische Leitung: Donald Runnicles Inszenierung: Vasily Barkhatov Bühne: Zinovy Margolin Kostüme: Olga Shaishemelashvili Darsteller: Stephen Bronk
Sieht aus, als wär's ein Stück von Strindberg: Vasily Barkhatov inszeniert Aribert Reimanns Dreiteiler "L'Invisible"
Quelle: Bernd Uhlig
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Ja mehr noch, der erste Teil ist ganz den Streichern vorbehalten, der zweite den Holzbläsern. Erst im dritten Teil, dem längsten, mischen sich die Instrumente wieder gewohnt expressiv und dramatisch packend.

Dieser Dreisatz (auch der späte Giacomo Puccini komponierte als formales Experiment die nicht zusammenhängenden längeren Einakter „Il Trittico“) ist selbst aber nicht unsichtbar. Auch wenn er sich zurücknimmt, konzentriert, Atmosphäre (ein wichtiges Maß bei Maeterlink) verdichtet.

Natürlich ist es, wie stets bei Reimann, ein geschlossenes Kunstwerk geworden. Er vertraut auf die Form, aber es ist diesmal angedeuteter, durchlässiger, bedeutungsoffener als sonst. Der Titel bezieht sich auf eine scheinbar die gesamte Stimmung des Werkes vergiftende, zumindest überschattende Königin, die niemals erscheint, aber so mächtig ist, dass sie im Finale ihren Enkel in ihr Spukschloss befiehlt.

Das Grauen füllt die dämmrigsten Grüfte

Dessen Schwestern fügen sich. Fürchten das Schlimmste. Das tritt auch ein. So, wie am Anfang eine Familie nur auf den Tod der Frau, Mutter und Tochter im Kindbett warten muss. Und wie im Mittelstück zwei Fremde den friedlich vereinten Verwandten nicht mitteilen wollen, dass die Tochter sich ertränkt hat.

Ein reimannsches Ostinato: eine ausweglose Situation, die sich in Klängen spiegeln lässt. Diesmal sind sie geruhsam, das Grauen kommt auf leisen Sohlen, aber es füllt wie undurchschaubarer Nebel noch die dämmrigsten Grüfte.

Man hört den alten, durchaus schlagkräftigen Aribert Reimann, aber er ist, schon selbst auferlegt instrumentierungsbedingt, monochromer, subtiler geworden. Immer noch jedoch atmet er ganz nah an der Szene.

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Ein Theaterpraktiker alter Präzisionsschule, der Ausgangslagen schafft, für Stimmen schreiben kann, in wenigen Takten Situationen und Charaktere Tongestalt werden lässt. Donald Runnicles setzt das wendig um, beflügelt das Orchester der Deutschen Oper zu einem kristallin-verwischten Klangbild, weich, aber konturenstark.

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Auf der Szene freilich wird eher seziert als skizziert. Der junge russische Regisseur Vasily Barkhatov will kein mythenschweres Maeterlinck-Märchendunkel. Was Reimanns Intention („Vasily denkt sehr aus der Musik heraus, das mag ich, auch wenn ich andere Bilder vor mir hatte“) letztlich entgegenkommt.

Denn so, wie seine „Medea“ in der Grillparzer-Version eben keine alte Griechentragödin, sondern hellsichtig eine gerade in ihrer Fremdheit ausgestellte und an ihr zerbrechende Frau war, so geht es hier auch sehr direkt und anrührend um ein Ausgeliefertsein an eine Tod bringende Kraft und wie man darauf reagiert, Schicksal annimmt.

Keine Ausweitung ins Gesamtgesellschaftliche

„Übermächte sind im Spiel“, so nennt es bei Strauss/Hofmannsthal die undurchsichtige Amme der „Frau ohne Schatten“. Heute hat der jähe Tod viele Namen.

„L’Invisible“ weitet sich nicht ins Gesamtgesellschaftliche, auch wenn die Monarchin schließlich ihre eigene Dynastie ausradiert. Zinovy Margolins Einheitsbühnenbild zeigt eine nüchterne Hausfassade mit Balkon, die die Handelnden mal innen, mal außen platziert, ein paar Möbel stehen herum, im Mittelteil verstärkt noch ein Weihnachtsbaum die tragische Dimension. Ein wenig Grusel verbreiten nur die Schattenrissvideos von Robert Pflanz, die zeigen, was schon nicht mehr ist, oder was kommen wird: eingefrorene Silhouetten des Unentrinnbaren.

Eine sehr geschlossene Ensembleleistung gilt es hier zu erleben. In allen drei Stücken ist die feine, präsente Rachel Harnisch als Schwester die wärmende Stimme der Vernunft, der Liebe, ja sogar Hoffnung; zweimal sekundiert von Annika Schlicht. Seth Carico gibt anfangs den leidenden Mann am Tisch, der die Familie zusammenzuhalten versucht. Stephen Bronk taucht dreimal als eine Art Seher der Antike auf.

DEUTSCHE OPER BERLIN L'INVISIBLE Musikalische Leitung: Donald Runnicles Inszenierung: Vasily Barkhatov Bühne: Zinovy Margolin Kostüme: Olga Shaishemelashvili Darsteller: Stephen Bronk, Thomas Blondelle
Das Grauen kommt auf leisen Sohlen: Die Bühne für Vasily Barkhatovs Inszenierung stammt von Zinovy Margolin
Quelle: Bernd Uhlig

Ein verbindendes Element sind als Reste eines kommentierendes Chors, die schon in zwei kurzen Intermezzi erklingenden Countertenöre Tim Severloh, Matthew Shaw und Martin Wölfel, die als Dienerinnen der Könige sich schließlich rabenhaftschwarz und dragqueenhaft pompös zeigen.

Und ein Kind zieht sich als Sprechrolle durch die Trilogie, erst purzelt es am Ende des ersten Teils aus der Wiege, im dritten reduziert Regisseur Vasily Barkhatov die Schlossszenerie auf eine Kinderkrebsstation: die böse Alte, „L’Invisible“, ist das gar die tödliche Zellwucherkrankheit als Metapher?

Großer, dankbarer Beifall für alle und alles. Und Aribert Reimann, der hat da immer noch ein lange schon angefangenes Projekt liegen, Federico García Lorcas rätselhaftes, erst posthum uraufgeführtes „Das Publikum“ …

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