Der Tod sitzt längst mit am Tisch

Zu jeder Dichtung findet der grosse Komponist Aribert Reimann eine kongeniale Tonsprache. Das zeigt auch die Uraufführung seines auf Texten von Maurice Maeterlinck basierenden Musiktheaters «L'Invisible» an der Deutschen Oper Berlin.

Eleonore Büning, Berlin
Drucken
Hinter dem Rücken der Lebenden tut der unsichtbare Gast sein Werk: «L'Invisible» an der Deutschen Oper Berlin. (Bild: Bernd Uhlig / DOB)

Hinter dem Rücken der Lebenden tut der unsichtbare Gast sein Werk: «L'Invisible» an der Deutschen Oper Berlin. (Bild: Bernd Uhlig / DOB)

Eigenwerbung muss sein in unseren lauten Zeiten. Aber auch eine Prise Lokalpatriotismus schwingt mit, wenn sich der Intendant der Deutschen Oper Berlin so kräftig selbst auf die Schulter klopft. Ja, es ist richtig, was im Programmheft dieser Uraufführung steht: Aribert Reimann war Westberliner, er hatte einst als junger Pianist hier korrepetiert, auch wurden drei seiner neun Opern an diesem Haus uraufgeführt. Doch das ist Geschichte. Berlin ist keine Insel mehr und Reimann, mit einundachtzig Jahren kreativer und aktiver denn je, ein erfolgreicher Global Player. Nur wenige Komponisten der Gegenwart haben, wie er, weltweit ihr eigenes, grosses Publikum gefunden.

Viel Raum für Musik

Aribert Reimanns jüngstes Bühnenstück, zur Saisoneröffnung am Wochenende in Berlin uraufgeführt, heisst «L'Invisible». Das französische Libretto dazu stellt er sich selbst zusammen, nach drei Einaktern von Maurice Maeterlinck. Zwei davon, «Interieur» (1895) und «Le Mort de Tintagile» (1894), waren ursprünglich fürs Marionettentheater geschrieben worden, alle drei erzählen von der alltäglichen Gegenwart des Todes. Und es ist ebendiese knappe, klare maeterlincksche Sprache mit ihren Aussparungen, die viel Raum lässt für Musik. Poetisch illuminiert vom Nichtausgesprochenen, scheint sie stets einen Fussbreit über dem Boden der Realität zu schweben, was die Komponisten seit je brennend interessierte, von Chausson bis Tanejew, von Schönberg über Puccini bis Debussy.

Es steckt einiges Debussyeskes in Reimanns neuer Oper. Keine direkten Zitate, jedoch spielerisch-harmonische Analogien zumal im dritten und letzten «Akt», wenn Quarten und Quinten dominieren und endlich das volle Orchester mit all seinen Wunderfarben zum Zuge kommt, mit den sprechenden Streichern, den eloquenten Holz- und Blechbläsern samt dem exotischen Gong. Reimanns Tonsprache ist stets aus der Sprachmelodie heraus entwickelt, man versteht diese musikalische Prosa (oder meint vielmehr, man verstünde alles) auf Anhieb. Und doch hat Reimann, für jede seiner grossen Opern, immer wieder einen anderen, unverwechselbaren «Ton» erfunden, der seinen eignen Sog entwickelt. Wer zuletzt seinen «Lear» in Salzburg oder seine «Medea» in Wien oder Berlin gehört hat, staunt nun, wie maeterlincksch linear das losgeht im ersten «Akt».

Zuerst unterminieren nur das wogende Wühlen tiefer Streicher und das Knurren der Kontrabässe die rezitativisch abgerissenen Tischgespräche der Familie in «L'Intruse» («Der Eindringling»). Sie merkt nicht, dass der Tod längst Platz genommen hat in ihrem Kreis. Nur der blinde Grossvater (Stephen Bronk) hört und sieht ihn. Nur die grosse Schwester Ursule (charismatisch volltönend: Rachel Harnisch) ahnt Schlimmes und versucht, etwas zu tun. Der Onkel (mit hellem Tenor: Thomas Blondelle) entkorkt die nächste Weinflasche. Die Gartentür springt auf, die Dienerin tritt ein, sie meldet: niemanden. Dann stirbt im Nebenzimmer die Mutter im Kindbett, das Neugeborene tut seinen ersten Schrei: ein starker Bläserakkord, eine grosse Erschütterung.

Zinovy Margolin hat eine beeindruckend triste Hausfront als Einheitsbühnenbild ersonnen, die lautlos gezoomt werden kann, sängerfreundlich hochgeschlossen. Dazu macht der junge, wilde Regisseur Vasily Barkhatov, wie er dies gerne tut, starken Gebrauch von der Statisterie. Die Wöchnerin im Krankenhausbett wird von Krankenschwestern fleissig zur Seitentür herein- und wieder hinausgerollt. Aus der Wiege, von Geisterhand hereingeschoben, purzelt, als im Orchester der Schreckensschrei ertönt, ein ausgewachsenes Schulkind, im Norwegerpullover – und setzt sich, während offstage drei unsichtbare Countertenöre ein madrigaleskes Interludium anstimmen, schon mal drinnen an den Esszimmertisch, fit für den zweiten «Akt», den es dann aber hauptsächlich verschläft.

Auch in «Interieur» stirbt ein Familienmitglied, ohne dass die anderen etwas davon mitkriegen. Wieder ist das Opfer eine Frau: Irgendwo ausserhalb wurde eine Ertrunkene geborgen. Aber Innen und Aussen haben sich verkehrt. Wie in einem Stummfilm agieren Statisten hinter der Glasfront des Verandafensters drinnen im Zimmer, während draussen vor der Tür diverse Todesboten eintreffen oder lange Schattenrisse an die Hauswand werfen und der Grossvater mit einem Fremden über das Unaussprechliche, aber Unvermeidbare spricht. Und diesmal sind es nur die wundersam weit auseinandergefächerten Holzbläser, die mitdiskutieren, wie Chöre von Menschenstimmen.

Sterben im Multipack

Dafür, dass der Tod in dieser Oper über das Sterben expressis verbis ein Unsichtbarer bleibt, liegen dann am Ende des dritten «Akts» ganz schön viele tote Statisten auf der Bühne herum. Es ist dies der einzige Teil der Oper, der keinen Tableau-Charakter hat, vielmehr eine veritable dramatische Handlungskurve aufweist. Ein Märchen geschieht, das Kind bekämpft eine böse Königin. Aber wieder rollt Barkhatov das Krankenhausbett herein, samt zugehörigem Personal, und für die Hoffnungsfigur des Kindes hat er sich einen multiplen Tod ausgedacht: Es hängt heraus aus einem brennenden Crash-Auto, (nebst Feuerwehrleuten), liegt gekrümmt vor einem zerbeulten Fahrrad (nebst Polizisten), hängt erdrosselt am Strick im Fenster, stürzt ab, wird auf der Krankenbahre hereingerollt (nebst Arzt und Schwestern). Und so fort.

Zum Schlussapplaus kommen also dreimal mehr Statisten als Sänger heraus auf die Bühne. Trotzdem hat die Musik eindeutig den Sieg davongetragen. Dank der suggestiven Kraft von Reimanns Musik, dank der Meisterschaft von Generalmusikdirektor Donald Runnicles und nicht zuletzt dank dem durchweg starken Sängerensemble.

CD-Hinweis: Aribert Reimann, «L'Invisible» (Ersteinspielung). Rachel Harnisch, Annika Schlicht, Ronnita Miller, Seth Carico, Tim Severloh u. a., Orchester der Deutschen Oper Berlin, Donald Runnicles (Leitung). Oehms Classics CD OC 973 (2 CD).