Eine Edelkurtisane im Madonnengewand

Regisseur Daniel Kramer erzählt am Theater Basel «La Traviata» aus der Perspektive der weiblichen Hauptfigur

Georg Rudiger
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«La Traviata» am Theater Basel. (BIld: Sandra Then)

«La Traviata» am Theater Basel. (BIld: Sandra Then)

Die Streicher klingen wie von fern – ihr schwebender Ton leuchtet. Das dezente Vibrato schafft Innerlichkeit. «La Traviata» beginnt am Theater Basel so ätherisch, als sei diese Musik nicht ganz von dieser Welt, als würde dem Tod, der in der Chromatik angedeutet ist, der Schrecken genommen. Dirigent Titus Engel nimmt das dreifache Piano ernst. Der delikate Klang des Sinfonieorchesters Basel bleibt auch erhalten, wenn das Vorspiel in den Begleitachteln langsam Fahrt aufnimmt und das expressive Liebesthema von den Celli mit sonorem Ton ins Diesseits geholt wird. Ein magischer Beginn!

Es gibt nicht viele Opern, die so auf die Hauptfigur zugeschnitten sind wie Giuseppe Verdis «La Traviata». Das kann zu aussergewöhnlichen Regielösungen führen – wie der von Benedikt von Peter, der in seiner Hannoveraner Inszenierung Violetta Valéry in Gestalt von Nicole Chevalier während der gesamten Oper ganz alleine auf der Bühne liess.

So radikal wie sein deutscher Kollege, inzwischen Intendant des Luzerner Theaters, ist Daniel Kramer am Theater Basel nicht. Aber der US-amerikanische Regisseur erzählt die Geschichte von Liebe und Tod auch aus der Perspektive dieser Frau, die in seiner Sichtweise von der Hure zur Heiligen wird und am Ende erlöst in den Tod geht. Mit Corinne Winters verfügt das Theater Basel über eine überragende Protagonistin, die dieser Violetta Würde und Tiefe gibt.

Selbst im schillernden ersten Akt, für den die Bühnenbildnerin Lizzie Clachan einen runden Spiegelsaal im Art-déco-Stil gebaut hat, wirkt diese attraktive, dem Tod geweihte Edelkurtisane inmitten von Miedern, Perücken und Strapsen in ihrem geschlitzten weissen Seidenkleid nie vulgär – die Kostüme wurden von Esther Bialas zusammengestellt.

Im zweiten Akt gleicht sie dann einer Madonna, wenn sie ihre Bettdecke wie einen Mantel um sich schlägt und, am Boden kniend, ihre Liebe zu Alfredo besingt. Corinne Winters kehrt in ihrer vielschichtigen Interpretation immer wieder zu diesem innigen, warmen Tonfall zurück. Ihr perfekt abgerundeter, dunkel timbrierter Sopran kann sich aber auch härten, um in den Fortissimo-Ausbrüchen über dem Orchestertutti zu strahlen. Mit Pavel Valuzhyn als Alfredo Germont hat sie einen hellen Tenor an der Seite, der die Partie tief im Lyrischen verankert.

Als dieser Alfredo in seiner biederen Bundfaltenhose im ersten Akt ins dekadente Pariser Nachtleben eintaucht, ist er ein Fremdkörper im frivolen Treiben. Selbst im Trinklied «Brindisi» bleibt er der sensible Frauenversteher. Mit Ivan Inverardi hat dieser Alfredo einen dominanten Vater, der gegenüber Violetta im zweiten Akt übergriffig wird. Darstellerisch gibt der italienische Bariton ein überzeugendes Ekelpaket. Stimmlich dagegen fehlt es ihm an Klarheit und Qualität, zumal Inverardi auch hin und wieder rhythmisch eigene Wege geht.

Das Sinfonieorchester brilliert an diesem Abend nicht nur mit einem luziden Streicherklang, feinen Holzbläsersoli und präzisen, nie brutalen Blechbläsern, sondern setzt auch interpretatorische Akzente. Die Walzerklänge im zweiten Bild des zweiten Aktes lässt Engel ganz stockend musizieren. Die Luxuswelt gerät aus dem Takt. Die weiss bemalten Gesichter der Choristen mit den schwarzen Augenhöhlen erinnern hier an Totenköpfe. Allerdings entfalten die Striptease-Einlagen der Männer nur begrenzten Sex-Appeal (Choreografie: Teresa Rotemberg). Aber der Chor des Theaters Basel schlägt sich darstellerisch wacker in der Pariser Halbwelt – stimmlich agieren Chor und auch das übrige Solistenensemble auf hohem Niveau.

Daniel Kramer setzt in seiner opulenten Inszenierung auf optischen Glanz und starke Kontraste. Im letzten Akt gewinnt der Abend auch szenisch an Eindringlichkeit. Ein riesiger, runder, matter Spiegel hängt schräg über der dunklen Szenerie und reflektiert das ärmliche Matratzenlager. Hier schaufelt sich Violetta ihr eigenes Grab. Ein letztes Mal betört Corinne Winters mit ihrer fast schon liedhaften Gestaltungskunst, ehe diese Liebende, getragen vom warmen Orchesterklang, ohne jedes Hadern in den Tod geht.