Oper DüsseldorfSadistische Quälgeister

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An der hinteren Bühnenwand hängt eine Uhr, die zu Beginn der Vorstellung 19 und am Ende, also nach knapp zwei Stunden, 19.05 Uhr anzeigt. Vorderhand geht das nicht mit rechten Dingen zu, Bühnenzeit und Realzeit fallen extrem auseinander. Dies aber ist exakt der Clou in Stefan Herheims Neuinszenierung von Alban Bergs "Wozzeck"-Oper in der Deutschen Oper am Rhein: Der gefeierte norwegische Regisseur blendet über die Handlungsebene des Dramas eine - mit dieser freilich eng verbundene - zweite Schicht: Die Oper ereignet sich, als Erinnerungsflash, in Wozzecks Kopf im Augenblick seines Todes. Dieser ereilt ihn infolge einer Giftinjektion auf dem Hinrichtungsbett einer amerikanischen Todeszelle - deren aseptisch-beengendes Ambiente zugleich den von Christof Hetzer entworfenen Bühnenraum bezeichnet. Und seine sadistischen Quälgeister im Leben - Hauptmann, Doktor, Tambourmajor -, sie figurieren zugleich als das den Hinrichtungsakt administrativ überwachende Gefängnispersonal.

Nun wird Wozzeck weder in Büchners Dramenfragment noch bei Berg hingerichtet - wo er beim Versuch, sein blutiges Messer zu reinigen, im See ertrinkt. Wegen der Ermordung seiner Geliebten exekutiert wurde aber sehr wohl - im Jahre 1824 in Leipzig - das historische Vorbild der Figur, der Perückenmacher und Soldat Johann Friedrich Woyzeck. Herheims Regie fügt somit Historie und Fiktion zusammen - womit das Ganze selbstredend eine andere Richtung bekommt: Im Zentrum steht jetzt nicht mehr der individualpsychologische Fall Wozzeck, sondern dessen Situierung im Kontext skandalöser gesellschaftlicher Gewalt- und Unterdrückungsverhältnisse - die noch auf das Strafrecht und dessen Unfähigkeit durchschlagen, auf den "Fall" angemessen zu reagieren. Indes: Ist das wirklich so "anders"? Tatsächlich ist gerade bei Berg - geradezu emblematisch in der Formel "Wir arme Leut'" (die sich keine "Moral" leisten können) - die sozialkritische Dimension unübersehbar; und Herheim setzt den Appell an das die Menschheit vertretende Publikum, als welchen der Komponist sein Werk ausdrücklich verstanden wissen wollte, dergestalt um, dass der Düsseldorfer Zuschauerraum immer mal wieder erleuchtet wird. Das macht: Er verrennt sich mit seinem starken Grundeinfall der Todeszelle nicht in eine regietheaterliche Abstrusität, sondern holt zugegeben spektakulär aus dem Stoff heraus, was in ihm von Haus aus drinsteckt.

Nun garantieren ein kraftvolles Basiskonzept und eine noch so begründete Ablehnung der Todesstrafe allein noch keinen intensiven Theaterabend. Und die Klippe eines langweilenden Überdrusses am situativen Immergleichen vermag Herheim auch nicht durchweg zu umfahren. Meistens aber eben doch - wozu dann auch die vielen die Rahmenidee in eine konzise Bilder- und Gestensprache umsetzenden Details beitragen. Da ist zum Beispiel das von Anfang an präsente Messermotiv: Hauptmann und Doktor drängen ihrem Opfer das Mordinstrument auf - es sind die auch von ihnen erzeugten katastrophalen Lebensumstände, die Wozzeck in seine Tat geradezu hineintreiben.

Und wenn der (immer wieder) auf seinem Hinrichtungsbett landet, dann erinnert diese Figur unübersehbar an den Gekreuzigten - die Titelgestalt wird zum Subjekt-Objekt einer säkularen Passion. Licht- und Farbregie (die Symbolik von Rot und Weiß) tun ein Übriges, das Geschehen mit der Aura einer düster-zwanghaften Ausweglosigkeit zu umgeben.

Herheim zur Hilfe kommen die großartigen, Kölner Opernfreunden auch aus ihrem eigenen Haus geläufigen Darsteller - diesbezüglich hat sich die Rheinoper wahrlich nicht lumpen lassen. Schlichtweg überwältigend in ihrer expressionistischen Gewalt, in ihrer tief berührenden Reinheit der Verzweiflung agiert Camilla Nylund als Marie. Und Bo Skovhus vermag das Elend der gequälten Kreatur Wozzeck nachdrücklich herüberzubringen - ganz unter Verzicht auf vordergründige Stimmexplosionen. Indes überzeugt die Solistenriege - mit Matthias Klink (Hauptmann), Sami Luttinen (Doktor), Corby Welch (Tambourmajor) und Cornel Frey (Andres) - bis in die Nebenrollen hinein. Die Düsseldorfer Symphoniker unter Axel Kober klingen detailfreudig, mitunter vielleicht etwas laut und grob. Aber der unversöhnliche Schmerzaspekt der Berg'schen Partitur kommt gut herüber. Nächste Aufführungen: 25., 27. Oktober, 2., 5., 19. November

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