Glanzvolle Neuinszenierung der Massenet-Oper „Manon“ im...

Beim Einlass ist die Bühne offen. Im Hintergrund zwei Straßenmädchen. Vorn liegt das Opfer. Wir ahnen das Ende der Titelfigur Manon. Diese beginnt ihren rasanten Aufstieg...

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WIESBADEN. Beim Einlass ist die Bühne offen. Im Hintergrund zwei Straßenmädchen. Vorn liegt das Opfer. Wir ahnen das Ende der Titelfigur Manon. Diese beginnt ihren rasanten Aufstieg und Fall als bürgerliches Mädchen, das mit 16 Jahren ins Kloster soll. Ihre Träume von Liebe, Freiheit, Abenteuer und Geld treten auf in Gestalt des Chevaliers Des Grieux. Zusammen gelingt die Flucht nach Paris, doch der Vater des Chevaliers hat etwas gegen unstandesgemäße Liebe, zumal noch ohne Trauschein. Er lässt den Sohn kidnappen und dem Mädchen durch einen anderen Adeligen ein rosiges Leben in Reichtum und Glamour versprechen. Aufstieg zum It-Girl im Rokoko-Kostüm. Sie erinnert sich des Geliebten und gewinnt ihn, der Priester werden wollte, wieder. Aber vom Virus, dass Liebe nur mit Geld funktioniert, ist sie bereits besessen. Abermalige Intrige des Vaters, Ende Manons im Elend von Gefängnis und Vergewaltigung.

An Jules Massenets Oper von 1884 lassen sich Mechanismen der patriarchalischen Gesellschaft ablesen. Sie entrechtet die Frauen, macht sie zu Sexualobjekten, versteht sie dann nicht mehr („die Frau als Sphinx“) und gibt ihnen die alleinige Schuld an der Aushebelung der väterlichen Moral.

Wunderbar junges, glühendes Protagonistenpaar

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Regisseur Bernd Mottl arbeitet die Tragödie der jungen Frau konsequent heraus. Die Figur der Manon zeigt eben nicht die „Perfidie, Verführungskraft und Schamlosigkeit des weiblichen Wesens“, wie Maupassant behauptete. Perfide ist die Unfähigkeit der Männergesellschaft, Liebe zu verstehen. Mit Cristina Pasaroiu als Manon und Ioan Hotea als Des Grieux hat Mottl ein wunderbar junges, glühend liebendes Protagonistenpaar, das auch stimmlich von zartestem Raunen bis zu leidenschaftlichem Strahlen alles beherrscht. Eindrucksvoll spielt Cristina Pasaroiu ihre Befremdung angesichts des Erfolgs, wenn alle sie bewundern, sie aber eigentlich nicht weiß, warum. Da hilft die Musik sehr fein mit. Manche Youtuberin heute mag wohl ähnliche Zweifel haben. Ioan Hotea liebt wahrhaft und spielt das anrührend. Beide glänzen in den Höhen, wobei man Hotea vielleicht etwas mehr Präzision in Intonation und Rhythmus wünschen würde. In einem sehr schönen Schlussbild begleiten Manon die Rollen, die sie für die Männer gespielt hat, in den widerstrebenden Tod.

Die Szene siedelt in einer bunten Filmwelt der 50er Jahre mit Playboy- und Bondgirl-Assoziationen (Bühnenbild und Kostüme: Friedrich Eggert), was stimmig ist, da hier das Patriarchat fröhliche Urständ feierte. Der Cousin Lescaut (prägnant Christopher Bolduc), der auf Manon zwecks Familienehre aufpassen soll, ist ein Rock’n’Roll-Typ, dem sowohl sein Auftrag wie auch die spätere Hilfe für seine Cousine misslingen.

Wie in Stein gemeißelt verkörpert Florian Kontschak als Vater Grieux das patriarchalische Fundament der Gesellschaft. Guillot (Erik Biegel) und Brétigny (Benjamin Russell) sind seine beflissenen Agenten, die davon profitieren, Poussette (Shira Patchornik), Javotte (Stella An) und Rosette (Silvia Hauer) die Glamourgirls, die als männliche Projektionsfläche alles mitmachen.

Die Musik Massenets hegt Sympathie für das Weibliche, das wurde oft bemerkt. Sie kann aber auch große, tragische Leidenschaft wiedergeben und steht da Puccinis „Manon Lescaut“ in nichts nach. Jochen Rieder leitet das kultiviert und fein disponierte Staatsorchester beweglich, immer die Sänger unterstützend, ein gelungenes Debüt in Wiesbaden. Der Chor (Albert Horne) leistet Hervorragendes. Alle Abteilungen des Hauses, Bühnentechnik, Schneiderei, Dramaturgie haben eine bedeutende, glanzvolle Neuinszenierung dieser hochaktuellen Oper zustande gebracht. Cristina Pasaroiu sah man am Schluss die Schmerzen an, denn sie spielte mit (bei den Proben) gebrochenem Fuß.

Von Dietrich Stern