Der Verstand weiß, dass Mimì ausnahmslos in jeder Vorstellung sterben muss, emotional ist man aber trotzdem nie wirklich darauf vorbereitet. Und so bringt Giacomo Puccinis Tränendrüsendrücker La bohème immer wieder ganze Opernhäuser zum Weinen. Wenn aber sämtliche Partien so gut besetzt sind, wie nun in der Oper Graz, gibt es gleichzeitig auch allen Grund zur Freude.

Es ist selten, eine Bohème zu erleben, in der alle Hauptrollen mit so jungen Sängern besetzt sind, wodurch sich an diesem Abend eine ganz eigene und ungekünstelte Dynamik ergab. In der  Wohngemeinschaft der Bohemiens rennt der Schmäh und wenn Puccinis Figuren nur annähernd so talentiert wären, wie dieses Quartett, hätten sie wohl keine Probleme, ihre Miete fristgerecht zu bezahlen. Neven Crnić, seit dieser Saison im Opernstudio engagiert, ist ein ungemein spielfreudiger Schaunard mit kraftvollem Bassbariton, dem es bei seiner Papageien-Anekdote im ersten Akt zwar librettogemäß nicht gelingt, seine WG-Kollegen zu beeindrucken, das Publikum lauschte ihm dafür umso lieber. Peter Kellner bewies zwei Tage nach seinem Debüt als Mozarts Figaro, dass ihm auch ernstere Töne liegen, denn selten hat ein Colline die Mantel-Arie so gefühlvoll und gleichzeitig profund interpretiert. Dariusz Perczak hat mit dem Marcello eine Paraderolle für sich gefunden. Den Wechsel vom ebenso arroganten wie unbeschwerten jungen Schnösel bis hin zu ehrlicher Anteilnahme an Mimìs Schicksal gestaltete er mit seinem warmen Timbre und dem in allen Lagen wie Chiffon fließenden Bariton wunderschön.

Der vierte im Bunde war der Rodolfo von Pavel Petrov, der, obwohl er kein Italiener ist, mit herrlicher Italianità bestach. Hatte er letzte Saison manchmal noch zu kämpfen, um über das Orchester zu kommen, war von diesem Problem nun nichts mehr zu merken. Seine Stimme ist mit einem äußerst schönen Timbre voll Schmelz gesegnet, ohne zu forcieren bewältigte er strahlende Spitzentöne und seine weichen Piani schwebten durch den Saal. Lediglich etwas mehr offensive Selbstsicherheit wäre ihm, vor allem in der Darstellung, noch zu wünschen, denn mit dieser Stimme hätte er wirklich jede Voraussetzung dafür. So harmonierte er, zwar etwas schüchtern, aber gesanglich hervorragend mit seiner Mimì Polina Pasztircsák. Die einzige an diesem Abend, die nicht dem Ensemble der Oper Graz angehört. Die ungarische Sopranistin war in den ersten beiden Akten, obwohl technisch sauber, noch etwas zu unterkühlt und glatt sowie darstellerisch zu eindimensional. Völlig konträr dazu zog sie nach der Pause plötzlich alle emotionalen Register, ihr glänzendes Timbre vermittelte wahre Emotionen und berührte in ihrer Einfachheit und Zurückhaltung in der Sterbeszene, in der sie – auch stimmlich – regelrecht verlosch.

Sonst eher operetten-erprobt bewies Sieglinde Feldhofer, dass es durchaus an der Zeit wäre, sie und ihren wendigen Sopran öfter in Opern zu besetzen. Ihre höhensichere Musetta wirbelte temperamentvoll und zuweilen aufmüpfig durch den zweiten Akt und erweckte mit ihrem innigen Gebet im letzten Akt doch noch die Hoffnung, dass Mimì dieses Mal überleben könnte. Wie immer eine sichere Bank war der Chor und auch die Kinder der Singschul' durften in ihrem großen Auftritt quirlig Parpignol und seine Spielwaren besingen. Unter der umsichtigen musikalischen Leitung von Marius Burkert, fand das Grazer Philharmonische Orchester zu vielen klanglichen Facetten, großer Dramatik und anrührender Zartheit. Wie aus einem Guss wirkte die orchestermusikalische Umsetzung des Spannungsbogens, das große Ganze behielt Burkert auch hinsichtlich der Sänger stets im Blick. Denn auch wenn er die Musiker passagenweise dazu anhielt, die dynamische Bandbreite voll auszukosten, wahrte er stets die Balance zwischen Graben und Bühne. Ganz großes Kino waren auch die sanften Streicherpiani, als Mimì ihr Leben aushauchte sowie die (ungewöhnlich gewordene) Tatsache, dass das Publikum es am Ende nicht wagte, zu klatschen, bevor der Dirigent den Arm sinken ließ.

Über die Regie muss man nicht viele Worte verlieren: Dietmar Pflegerls Inszenierung wirkt wie die modernere, weniger kitschige Schwester der Produktion von Franco Zeffirelli, bietet aber ebenso alle Zutaten für eine klassische Bohème – Schneefall im dritten Akt natürlich inklusive. Seit 2008 ist diese La bohème ein Fixpunkt unter den Grazer Wiederaufnahmen und jedes Mal gilt auf's Neue: Taschentücher nicht vergessen!

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