Die Ewigkeit auf dem Gummibund: Eternity ist eine Unterhosenmarke, deren gut gepolstertes Modell dem Konsumenten Transzendenz verspricht. So greift die Warenwelt, hier auf mehreren Werbetafeln vertreten, nach höheren Werten.
Und das dumme Volk, graumäusig im Einheitslook zwischen kreiselnden Plattenbauten und schmutzig-schwarzen Wänden eingekesselt, merkt nichts. Lässt sich willig vom PR-Opium verführen, ob mit Slipversprechungen oder einem besseren Leben im Namen des windigen Wiedertäufertrios, das sich hier angeblich aus Glaubensgründen gegen die Machthaber auflehnt. Dabei sucht es nur selbst das schöne, irdische Dasein. Und versichert sich des charismatischen Gastwirts Jean de Leyde, eines König-David-Doppelgängers, der sich als falscher Prophet einspannen lässt und notfalls sogar die eigene Mutter verleugnet.
Das kann nur ein schlechtes Ende nehmen, so wie es sich auch in der Realität, ohne die von Eugène Scribe hinzuerfundenen familiären Singspielsentimentalitäten, mit dem kurzlebigen Wiedertäuferreich anno 1536 zu Münster ereignet hat. Die Käfige, in denen einst die Überreste des hingerichteten Jean und seiner Mittäter vergammelten, hängen noch heute an der Turmfassade der Münsteraner Lamberti-Kirche.
Kein sehr gutes Ende genommen hat auch der lange schon verglühte Ruhm des einstigen Operngiganten Giacomo Meyerbeer, der Mitte des 19. Jahrhunderts stilprägend nicht nur für Richard Wagner und Giuseppe Verdi war, sondern mit der Grand opéra als Blockbuster der Belle Epoque eine eigene, folgenreiche Gattung profilierte. Insbesondere seine drei Hauptwerke „Robert der Teufel“ (1831), „Die Hugenotten“ (1836) und „Der Prophet“ (1849) eroberten von Paris aus die Bühnen der Welt, und seine kosmopolitische Musiksprache (er komponierte Werke im italienischen, französischen und deutschen Stil) machten den preußischen Generalmusikdirektor zu einem viel kopierten Vorbild. Das freilich dann später von anderen an Innovation und musikalischer Tiefe übertroffen wurde. So verschwanden seine pracht- wie anspruchsvollen Singspektakel allmählich von den Spielplänen, der Antisemitismus in Nazideutschland tat ein Übriges.
Die Nachhaltigkeit der Deutschen Oper
Heute haben die Opernhäuser erkannt, dass man Meyerbeers Erbe auch bisweilen jenseits der Repertoiretortenstücke mal vorzeigen und auffrischen muss. Forscher sind am Ort, und Meyerbeer als genrewichtiger Komponist des Übergangs erhält wieder Beachtung. Allein „Le Prophète“ fand in letzter Zeit in Karlsruhe, Essen und Toulouse seinen Weg zurück auf die Bühne. Die Oper Frankfurt bringt im Frühjahr 2018 „Vasco da Gama“ heraus, die Originalfassung der „Afrikanerin“. Diana Damrau hat bei Erato eine hochgelobte, einzig Meyerbeer gewidmete Arien-CD veröffentlicht. Und in der kommenden Saison wird Andreas Kriegenburg mit „Les Huguenots“ endlich wieder einmal Meyerbeer an der Opéra de Paris neu inszenieren.
Am Nachhaltigsten hat sich freilich in den letzten vier Spielzeiten die Deutsche Oper Berlin um den Berliner Komponisten verdient gemacht. Vier Werke wurden konzertant oder szenisch präsentiert, es gab ein in Buchform dokumentiertes Symposium, und mit „Le Prophète“ hat man jetzt dieses megalomane Musiktheaterquartett abgeschossen. 2020 wird es dann noch einmal zusammenfassende „Meyerbeer-Tage“ geben.
Wirklich seine Hausaufgaben gemacht hat das hauseigene Orchester, bei dem für drei der Premieren, auch jetzt, Enrique Mazzola am Pult stand. Da gelingt inzwischen ein Laune machender, schlanker, sehniger, romantisch farbiger Mischklang. Der kommt mit wenigen Streichern aus, verfügt aber über ein gut balanciertes, diszipliniertes Blech. Das Ganze ist temperamentvoll gespannt und variantenreich (etwa im Krönungsmarsch, der bis in die „Aida“ nachhallt), aber nicht lärmig. Liebevoll präsentiert Mazzola die charaktervollen Holzbläsersoli und beweist Sinn für die manchmal sehr ausgedünnten Instrumentierungsraffinessen dieser auf Kontrastdramaturgie und Überwältigung abzielenden Partiturschreibweise.
Westfalen-Bukolik ohne Lokalkolorit
Der Regisseur Olivier Py, dem 2014 in Brüssel dunkel-pathetische, in ihrem sinnlichen Symbolismus lange nachwirkende „Hugenotten“ gelangen, hat dem musikalischen Geschehen diesmal leider nur – wenn auch hochwertige – Regietheaterroutine entgegenzusetzen. Denn seine Versatzstücke und die seines clever minimalistischen Ausstatters Pierre-André Weitz, sie sind leidlich bekannt: Dunkelheit und Nebel, Feuer und Blendscheinwerfer, Häuserschluchten und Hallen des Industriezeitalters, undefinierbare Proletarierkostüme, viel Drehbühne und, ähnlich wie oft bei Hans Neuenfels, eine halb bis völlig nackte Bewegungschorschar für überhöht schwul-kitschige Momente. In diesem Fall gesellt sich auch noch ein hemdloser Engel der Geschichte dazu, der allzu oft die Szene durchmisst oder -fliegt und dabei Spruchtafeln hochhält.
So hakt Regisseur Py weitgehend emotionsfrei seine Spielstationen ab, korrekt und effektiv, mit rahmenden Werbeflächen, die Bikinischönheiten, Spiralnebel oder einen Vulkanausbruch zeigen. Man sieht in Albträume umschlagende, lokalkoloritfreie Westfalen-Bukolik samt Vergewaltigung von Jeans Braut Berthe (eigentlich eine Episodenfigur, doch Elena Tsallagova verschafft sich mit durchdringendem Sopran nicht nur vokal Raum).
Man sieht das Bistrorestaurant des Jean, wo dieser recht rasch verführt wird. Oder das vorgebliche himmlische Jerusalem Münster, das sich schnell als diktatorischer Polizeistaat entpuppt, wo in der großen, rhythmisch geölt federnden und einst für ihren Rollschuheinsatz berühmten Balletteinlage der Schlittschuhläufer ebenfalls stilisiert geschändet und mit religiösen Szenen aus der Kunstgeschichte gespielt wird. Dafür passiert in der pompösen Krönungsszene kaum etwas. So wie dann auch das Explosionsfinale als höllischer Untergang aller Beteiligter müde als Statistenorgie verpufft – man starrt auf anonyme Schniedel und Busen statt auf sinnfällige Aktionen der wenig geführten Hauptpersonen.
Wie wäre es mal mit „Sigurd“?
Die aber machten zumindest vokal eine gute Figur: Derek Welton, Andrew Dickinson und Noel Bouley als sinistre Anabaptistengang genauso wie der auftrumpfende Seth Carico als böser Graf Oberthal. Mit 63 Jahren ist Gregory Kunde als Jean ein eher gesetzter falscher Prophet. Die lyrischen Momente muss er sich mit sehr guter Technik abtrotzen, für die dramatischen Teile der Partie aber hat er strahlend-heldische Tenortöne, von leuchtender Mittellage unterfüttert.
Und bei Clémentine Margaines grau-verfusselter, trotzdem grandioser Mama Fidès merkt man deutlich, dass heute keine Interpretin alle Ansprüche dieser einst für die Ausnahmesängerin Pauline Viardot konzipierten Rolle erfüllen kann. Die an der Deutschen Oper groß gewordene Mezzosopranistin hat eine wohlige Tiefe und breite Linien zu bieten, mit dem Verzierungswerk der letzten Arie hapert es dann.
Meyerbeer-Fazit: Es war gut, ihm so ausführlich und kompetent zu begegnen. „Die Hugenotten“ bleiben sein bedeutendstes Werk. Und nun wenden wir uns gern anderen französischen, hierzulande ebenfalls selten gespielten Stücken zu. Wie wäre es an dieser exemplarischen Wagner-Spielstätte beispielsweise mal mit dem opulenten Germanen-Opus „Sigurd“ von Ernest Reyer?