«Le Prophète» in Berlin: Plattenbau an Schäferhund

Giacomo Meyerbeer erlebt seit Jahren eine Renaissance. Die Aufführung seiner Grand Opéra «Le Prophète» in Berlin ist ein musikalischer Triumph – und ein szenisches Desaster.

Eleonore Büning, Berlin
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Gregory Kunde (Jean de Leyde) und der Chor der Deutschen Oper Berlin. (Bild: Bettina Stöss / Deutsche Oper Berlin)

Gregory Kunde (Jean de Leyde) und der Chor der Deutschen Oper Berlin. (Bild: Bettina Stöss / Deutsche Oper Berlin)

Der Fortschritt geht gern Umwege, er kann, zumal im Spiegel der darstellenden Künste, leicht zum Wiegeschritt oder zum Foxtrott werden. Selbst Stehenbleiben sei manchmal klug und nützlich, wie der Komponist Helmut Lachenmann einmal spitz bemerkt hat. Öfters aber ist Stillstand nur dumm, wie zum Beispiel in der Berliner Neuinszenierung von Giacomo Meyerbeers «Le Prophète».

Diese lange vergessene Grand Opéra wird erst in jüngster Zeit, im Zuge der Meyerbeer-Renaissance, wieder ab und zu aufgeführt, zuletzt zu sehen in Toulouse und Essen, zuvor in Braunschweig. Sie berichtet vom Schicksal der Wiedertäufer in der Stadt Münster und von deren König der letzten Tage, Jan van Leiden – ein Lehrstück über die Folgen von Fanatismus und die Mechanismen der Demagogie, heute so aktuell wie 1849, im Jahr der Pariser Uraufführung.

Zugleich ein veritabler Reformationskonflikt: Martin Luther selbst war es, der 1529, vier Jahre vor dem Aufstand im Westfälischen, prophezeit hatte, es sei dies «der Jüngste Tag, wenn ich mich nicht täusche, den die Zeichen ankündigen!» Und nahm dies, als die Ereignisse eskalierten, zurück und wetterte gegen das chiliastisch-lästerliche Teufelswerk.

Rotierender Stillstand

Regisseur Olivier Py indes hat die Geschichte nun für die Deutsche Oper Berlin in eine Plattenbausiedlung der Jetztzeit verlegt, die mit Reklametafeln dekoriert und von gut gebauten, halb oder ganz nackten Statisten und Tänzern besiedelt ist – plus einem Schäferhund. Und da wundert man sich von Anfang bis Schluss, also gut viereinhalb Stunden lang, dass sich bei pausenlos rotierender Beweglichkeit der Kulisse so überhaupt gar nichts bewegt, und das ungeachtet des Gewusels der vielen Nebenfiguren.

Py inszeniert Stillstand: ein Tableau, in vielfach variiertem Dekor. Das steht zu der leidenschaftlich bewegten, melodisch überreichen Partitur, zu den instrumentalen Meyerbeerschen Sensationen und den erschütternden Konflikten der Handlung in lähmendem Widerspruch. Die drei Hauptakteure stellt Py an die Rampe und lässt sie dort im Wesentlichen herumstehen: den demagogisch-verwirrten Tenor-Schönling Jean de Leyde mit der rührend brüchigen Höhe (Gregory Kunde), seine süss-tapfere, koloraturfeste Singspiel-Braut Berthe mit Putzfimmel (Elena Tsallagova) sowie die moralisch-souveräne, glaubensstarke Mutter Fides (Clémentine Margaine), die fast bis ins Bassregister hinunterorgeln kann und eine der grössten Mezzosopran-Partien der Operngeschichte zu bewältigen hat.

Wehrhaft: Elena Tsallagova als Berthe und Clémentine Margaine als Mutter Fides. (Bild: Bettina Stöss / Deutsche Oper Berlin)

Wehrhaft: Elena Tsallagova als Berthe und Clémentine Margaine als Mutter Fides. (Bild: Bettina Stöss / Deutsche Oper Berlin)

Gleichfalls Stillstand bei den drei Anführern der Wiedertäufer (Derek Welton, Andrew Dickinson und Noel Bouley), die dreistimmig meist einer Meinung sind, was Meyerbeer zu interessant aufgefächerten Musiknummern inspiriert hat. Doch keine dieser Figuren gewinnt Kontur und Leben, keine entwickelt Charakter. Man begreift nicht einmal, warum sie tun, was sie tun. Sie treten links auf, stehen herum, singen, gehen rechts ab. Oder umgekehrt. Man fragt sich irgendwann, warum sie überhaupt singen. Karikaturhaft führen sie gestrige Operngesten vor, die man längst vergessen hatte: Hand aufs Herz, Augen nach oben, runter auf die Knie.

Meyerbeers Musik, frisch wie am ersten Tag, hätte Gescheiteres verdient. Sie ist klug, lüstern und bunt, rhythmisch federnd, machtvoll romantisierend und rossinesk raffiniert, je nachdem. Belcanto-Fachmann Enrique Mazzola am Pult hat sich erstmals die neue historisch-kritische Meyerbeer-Edition vorgenommen und fast nichts gestrichen darin, denn alles in diesem Drama greift eng ineinander. Und Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin, die bereits die «Hugenotten» und «Vasco da Gama» einstudiert hatten, blühen zu voller, leuchtender Klangpracht auf.

Biegsam und flink dirigiert Mazzola, durchsichtig solistisch, aber warm aufrauschend in den Farbmischungen, idiomatisch perfekt in jeder dramatischen Situation, vom ersten bebenden Tremolo des Vorspiels an, darin sich eine falsche Idylle ankündigt, bis zu den Wettern der finalen Explosion, die den Traum vom Paradies auf Erden in Feuer und Blut erstickt. Musikalisch und sängerisch ist dieser «Prophète» also, auch wenn nicht jede Rolle perfekt besetzt sein mag, ein grosser Abend. Szenisch war man früher schon entschieden weiter.

Störende Zwischentöne

Als eines der Markenzeichen der Grand Opéra im Zeitalter der Industrialisierung galt schliesslich die Revolutionierung der Bühnentechnik, mit Rundhorizont, Versenkung, Gasbeleuchtung, elektrischem Licht, dazu Dutzenden von Maschinisten, die für atemberaubende Spektakel sorgten – was Heine belustigte, Offenbach parodierte, Wagner nachahmte. Im Vergleich dazu arbeitet die Technik der Deutschen Oper Berlin für ein grosses Haus des 21. Jahrhunderts suboptimal.

Wieso hängt der hübsche Junge mit den Engelsflügeln und dem Waschbrettbauch, der als Gottes Nummerngirl immer mal wieder auftaucht, um Parolen des Propheten auf Pappschildern zu präsentieren, so schief in den Schnürboden-Seilen und streift beim Abgang fast die nächstbeste Pappmauer? Warum scheppert gleich zu Beginn ein massiver Umbau der Häuserfront im Hintergrund in den wahrlich nicht gerade pianissimo singenden Chor der Aufständischen hinein? Und wieso macht die Drehbühne nebst den darauf montierten Metallregalen solch einen Höllenlärm?

Das dreht sich fortwährend und knirscht und rumort nicht nur während der blechgepanzerten Massenchöre, auch die glückselige, wunschkonzertbekannte Ballettmusik des dritten Aktes mit ihren rhythmisch witzigen, melodisch ohrwurmfähigen Schlittschuhläufermusiken muss daran glauben. Und sogar in die Traumszene des Jean, in die lyrischen Zwiegespräche der Frauen, ihre ängstlichen Hoffnungskantilenen, während Meyerbeer (und mit ihm Mazzola) das ausgedünnte Orchester fein solistisch zurücknimmt, mengt sich akustisch grob die Kulissenschieberei hinein. Man möchte ja nicht kleinlich sein: Aber in einer Opernaufführung kommt es doch auch ein bisschen an auf die Musik.