Ehebruch mit Folgen: «Anna Karenina» wirkt auch als Oper

Die Tolstoi-Oper «Anna Karenina» von Jenö Hubay ist eine Entdeckung. Jetzt inszeniert Adriana Altaras die Schweizer Erstaufführung des reizvollen Werks in Bern.

Thomas Schacher, Bern
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Gefährdetes Glück in Venedig: Anna Karenina (Magdalena Anna Hofmann) und ihr Geliebter Wronsky (Zurab Zurabishvili). (Bild: Judith Schlosser / Konzert Theater Bern)

Gefährdetes Glück in Venedig: Anna Karenina (Magdalena Anna Hofmann) und ihr Geliebter Wronsky (Zurab Zurabishvili). (Bild: Judith Schlosser / Konzert Theater Bern)

Eine Frau, unglücklich verheiratet, verliebt sich in einen anderen Mann und brennt mit ihm durch. Doch im Exil wird das Paar nicht glücklich, denn der Ehemann verweigert die Scheidung, und der Lover will zu Hause Karriere machen, mit einer ehrbaren Gefährtin an seiner Seite. Da sieht die Frau keinen Ausweg mehr und stürzt sich vor den Zug. Diese Geschichte bildet den Hauptstrang in Leo Tolstois «Anna Karenina» aus dem Jahr 1877. Wer den grossartigen Gesellschafts- und Liebesroman nicht gelesen hat, kennt vielleicht eine der zahlreichen Verfilmungen aus jüngerer Zeit.

Das Musiktheater hat sich des Stoffs dagegen nur selten bemächtigt. Zu nennen sind vier «Anna Karenina»-Opern aus dem früheren 20. Jahrhundert. Eine davon stammt von dem ungarischen Komponisten Jenö Hubay, der ausserhalb seiner Heimat heute nahezu unbekannt ist. Hubay hat sich als Violinvirtuose und als Direktor der Musikakademie Budapest einen Namen gemacht – und er war zu Lebzeiten eine der tonangebenden Persönlichkeiten im ungarischen Musikleben.

Schweizer Erstaufführung

Seine 1914 komponierte Oper erlebte ihre Uraufführung infolge des Ersten Weltkrieges erst 1923. Nach einigen Wiederaufnahmen in Deutschland und Österreich während der dreissiger Jahre verschwand das Stück von den Spielplänen. Nach einem langen Dornröschenschlaf ist Hubays «Anna Karenina» vor drei Jahren in Braunschweig zu neuem Leben erweckt worden. Und nun hat Konzert Theater Bern das Werk als Schweizer Erstaufführung auf die Bühne des Stadttheaters gebracht.

Die Verkürzung und Verdichtung eines 800-seitigen Romans zu einer gut zweistündigen Oper ist natürlich problematisch. Das Libretto von Alexander Góth und Andor Gábor, das in Bern in der deutschen Übersetzung von Hans Liebstoeckl gesungen wird, konzentriert die Handlung extrem. Neben dem dominierenden Hauptpaar Anna und ihrem Liebhaber Wronsky spielt nur noch das Kontrastpaar Kitty und Lewin eine nennenswerte Rolle. Annas Ehemann Karenin, der im Roman als differenzierte Figur gezeichnet ist, wird auf einen finsteren Gesellen reduziert. Auch der ganze gesellschaftlich-politische Hintergrund ist weitgehend verschwunden. Keine leichte Aufgabe für die Regisseurin Adriana Altaras.

Sehr realistisch zeigt Altaras eine russische High Society, die aber nicht eindeutig in Tolstois Zeit angesiedelt ist. Christoph Schubiger hat für die Handlung vier einprägsame Bilder geschaffen, die den Kreis der Jahreszeiten aufnehmen: Wir erleben den Moskauer Adel beim Eislaufen im Winter, die Tribüne einer Pferderennbahn im Frühling, eine Loftwohnung im sommerlichen Venedig, die dem ehebrecherischen Paar als Liebesnest dient, und eine düstere russische Nebellandschaft im Herbst. Nina Lepiliana charakterisiert die Adelsgesellschaft mit Pelzmänteln, Uniformen und, beim Pferderennen, mit einem bisschen Ascot-Glamour.

Das Ende naht in Gestalt einer Lokomotive: Anna Karenina (Magdalena Anna Hofmann) sieht keinen anderen Ausweg als den Freitod. (Bild: Judith Schlosser / Konzert Theater Bern)

Das Ende naht in Gestalt einer Lokomotive: Anna Karenina (Magdalena Anna Hofmann) sieht keinen anderen Ausweg als den Freitod. (Bild: Judith Schlosser / Konzert Theater Bern)

Ein Hauch von gesellschaftlicher Deutung ereignet sich zu Beginn des vierten Bildes, wo der Zar und der Metropolit ins Off marschieren und anschliessend ein Arbeiter mit roter Fahne auftritt. Die Oktoberrevolution lässt grüssen. Im Kern widmet sich das Regieteam jedoch der psychischen Lage der Hauptfiguren und versucht diese aus den vorgegebenen Rollen heraus zu verstehen.

Von der musikalischen Seite her lohnt sich die Ausgrabung ganz klar. Kompositorisch bewegt sich Hubay mit «Anna Karenina» nahe am Verismo Puccinis und fügt einige Ingredienzien der Wagnerschen Orchestersprache hinzu. Auch wenn die vier Wagner-Tuben in Bern aus Platzgründen wegfallen, ist die Orchesterbesetzung immer noch sehr gross. Doch mit ihren emotionalen Gesten trägt die Musik wesentlich zur Charakterisierung der Figuren und der Situationen bei.

Ein Element, das schon im ersten Bild auftaucht, ist eine naturalistische Dampflokomotiven-Motorik, die bereits auf Annas tragisches Ende hinweist. Jochem Hochstenbach, seit letzter Saison Erster Kapellmeister in Bern, bevorzugt die kräftigen Farben. Das Berner Symphonieorchester bewegt sich an der Premiere auf einem guten Niveau, an den hohen Streicherklängen darf noch ein bisschen gefeilt werden.

Glücksfall

Die Aufführung steht und fällt mit der Besetzung der Hauptrolle. Die polnische Sopranistin Magdalena Anna Hofmann, die in ihrer bisherigen internationalen Karriere unter anderem schon Wagners Kundry und Elsa gesungen hat, ist für Bern ein Glücksfall. Mit ihrer dramatischen und emotionalen Stimme sowie ihrer darstellerischen Wandlungsfähigkeit verleiht sie der Titelfigur eine sensationelle Ausstrahlung.

Nicht ganz an sie heran kommt Zurab Zurabishvili als Wronsky; sein Tenor klingt in der Höhe oft grell. Beim Buffo-Paar sind die leichteren Stimmen gefordert, und hier erfreuen die Kitty von Lilian Farahani und der Lewin von Andries Cloete mit einer wohltuenden Heiterkeit, die manchmal mit leichter Ironie gepaart ist. Im letzten Bild, in dem Anna von Wronsky definitiv fallengelassen wird, stehen Kitty und ihr Lewin als Verkörperung eines kitschig-glücklichen Familienidylls mit Kinderwagen daneben.