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Theater Bielefeld: Neuinszenierung von Jules Massenets Oper »Werther«

Lauter Brandraketen

Bielefeld (WB). Noch einmal eintauchen in die Abgründe des Liebesschmerzes, noch einmal dem längst vergangenen Leid nachspüren, die Verstörung, Obsession erneut erleben. Welcher Mensch von gesundem Verstand würde sich dies wünschen?

Uta Jostwerner

Wenig Kulisse, große Dramatik: Tenor Daniel Pataky und Nohad Becker (Mezzosopran) sind als Werther und Charlotte gefangen in einem schmerzhaften Beziehungsgeflecht. Das Premierenpublikum war begeistert.
Wenig Kulisse, große Dramatik: Tenor Daniel Pataky und Nohad Becker (Mezzosopran) sind als Werther und Charlotte gefangen in einem schmerzhaften Beziehungsgeflecht. Das Premierenpublikum war begeistert. Foto: Theater Bielefeld/Sarah Jonek

Am Theater Bielefeld führt Regisseur Alexander Charim in seiner Inszenierung der Oper »Werther« von Jules Massenet genau solch einen Charakter ein: Werther, ein Dichter, der sein Leiden um eine unerfüllte Liebe ehemals erfolgreich in einem Briefroman verarbeitet hat, ruft noch einmal die Geister der Vergangenheit herbei und begleitet sich selbst durch einen Abgrund.

Im Roman ließ er ehedem seinen Protagonisten sterben, um selbst weiterleben zu können. So ganz ungeschoren geht er aus seinem neuerlichen Ego- und Selbstzerstörungstrip indes nicht hervor.

Ungekanntem Ausmaß

Charim amalgamiert gekonnt die Oper mit dem autobiografischen Hintergrund der Dramenvorlage »Die Leiden des jungen Werther« von Johann Wolfgang von Goethe und erschafft mit der Einführung eines Schauspielers, der als Alter ego dem Sängerdarsteller zur Seite steht, einen Emotionsverstärker von ungekanntem Ausmaß.

Rückblickend äußerte sich Goethe gegenüber seinem Freund Eckermann, dass er seinen Werther-Roman nach Erscheinen nur ein einziges Mal wiedergelesen habe und sich fortan hüte, es erneut zu tun. »Es sind lauter Brandraketen!«, ließ Goethe verlauten.

Eine um die andere Brandrakete zünden dann auch die Regie und die Musik in der Neuinszenierung von Massenets Meisterwerk in Bielefeld, das vom Premierenpublikum im Stadttheater mit nicht enden wollendem Applaus bedacht wurde.

In Liebe und Hass verschmolzen

Die Regie fokussiert einerseits die egozentrischen Charakterei­genschaften Werthers, wirft andererseits aber auch einen detailscharfen Blick auf das schmerzhafte Beziehungsgeflecht, in dem Charlotte, Albert, Werther und Sophie gefangen sind. Großartige Sängerdarsteller und ein Schauspieler entfesseln in historisierenden Kostümen und vor sparsamer Kulisse (Ivan Bazak) ein martialisches Gefühlsfeuerwerk.

In Liebe und Hass verschmelzen der Sänger Daniel Pataky und der Schauspieler Orlando Klaus mitein­ander und liefern zwei Varianten einer gestörten Werther-Persönlichkeit. Klaus fungiert als Spielemacher, der ein Schattentheater heraufbeschwört, das für ihn immer mehr zur grausamen Realität wird. Seine subtile Gestik und Mimik, aber auch sein Zynismus sprechen Bände.

Zwischen Pflicht und Verlangen

Pataky ist diesem Spielemacher und seinen Emotionen ausgeliefert. Mit tenoraler Strahlkraft, in mal melancholischen, mal kraftvoll-dramatischen Ausbrüchen verleiht er seinem Weltschmerz Ausdruck.

Zerrissen zwischen Pflichterfüllung und Verlangen legt Nohad Becker ihre Rolle als Charlotte an und unterstreicht dies mit brillant geführtem Mezzosopran, der zu leuchtenden Höhen und satten Tiefen fähig ist, der die noble Zurückhaltung ebenso kennt wie den wilden Schmerz einer Frau, die sich zu spät zu ihren wahren Gefühlen bekennt.

Emotionales Seelengemälde

Kindliche Fröhlichkeit strahlt Cornelie Isenbürger mit glockenhellem, geschmeidig geführtem Sopran aus. Darstellerisch zeigt sie auch die verletzte Seite der Sophie. Baritonale Noblesse verströmt Frank Dolphin Wong als Albert. Seine Rolleninterpretation zeigt indes einen vielschichtigeren Typen, einen Mann, der, krank vor Eifersucht, kalt und berechnend wurde.

Ein hoch emotionales Seelengemälde entwerfen dazu die Bielefelder Philharmoniker unter der Leitung von Alexander Kalajdzic. Bielefelds Generalmusikdirektor lässt das Orchester wunderbar changieren zwischen Sentiment und Aufschrei, zwischen Melancholie und Euphorie, behält die Sängerinnen und Sänger mit perfekt ausbalanciertem Klang dabei aber stets im Blick.

In Präzision und Transparenz verströmt die Musik Sinnlichkeit und Poesie, Kraft und Leidenschaft.

Die nächsten Termine sind am 8., 15. und 29. Dezember, weitere im kommenden Jahr. Infos und Karten beim WESTFALEN-BLATT.

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