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Veritables Schattenspiel

Bielefelder Stadttheater: Jules Massenets Oper „Werther“ feierte in einer Inszenierung von Alexander Charim Premiere. Die Philharmoniker boten eine der reifsten Orchesterleistungen der bisherigen Spielzeit

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Zwischen Liebeskummer und Todessehnsucht: Tenor Daniel Pataky singt Werther und Mezzosopranistin Nohad Becker gibt Charlotte.  Foto: Sarah Jonek | © Sarah Jonek

Zwischen Liebeskummer und Todessehnsucht: Tenor Daniel Pataky singt Werther und Mezzosopranistin Nohad Becker gibt Charlotte. Foto: Sarah Jonek | © Sarah Jonek

04.12.2017 | 04.12.2017, 16:36

In Alexander Charims „Werther"-Inszenierung, die am Samstag im Bielefelder Stadttheater Premiere feierte, spielen Schatten eine große Rolle, hinter die die tatsächlich Handelnden mitunter zurücktreten. Aber was heißt hier „die tatsächlich Handelnden"?

Dadurch, dass Charim dem singenden Werther ein sprechendes Alter Ego beigesellt, relativiert sich der „Realitätsgehalt" der singenden Akteure. Ist Werthers Alter Ego real und die Handlung eine Ausgeburt seiner Hirngespinste? Oder sind die singenden Akteure real? Dann wäre Werthers Alter Ego seinerseits ein Hirngespinst, aber wessen Einbildung entsprungen?

Liebeskummer und Todessehnsucht

Fragen über Fragen, die einer feinfühlig zeitgenössischen Inszenierung eines 125 Jahren alten Opernstoffes gut zu Gesicht stehen. Denn Goethes Werther-Stoff, von dem der französische Spätromantiker Jules Massenet sich hat entzücken lassen, ist längst im Legendenstatus eingefroren, und es bedarf einiger Anstrengung, die Starre aufzulösen, um den lebendigen Kern um Liebeskummer und Todessehnsucht freizulegen.

Ivan Bazak hat ein lakonisches Bühnenbild entworfen. Ein leinwandartiges Riesenrechteck auf der ansonsten kahlen Bühne, das sich bei entsprechender Drehung als aufklappbarer Quader zu erkennen gibt. Links ein leerer Raum, im vierten Akt ausgestattet mit einem Tisch, auf dem Werther sterben wird; rechts zwei Etagen, die obere zeigt biedermeierlich inspirierte heile Welt.

Die Seiten des Quaders sind die Projektionsflächen für die Schatten, die ihrerseits zu lebensrealistischer Verwirrung beitragen, indem sie Zeit- und Raumgrenzen verschwimmen lassen. Einerseits sind da die Schattenrisse der Bühnenakteure, die in ihrer Größe und Schärfe changieren und durch den Einsatz entsprechender Lichtquellen sich verdoppeln und überlagern können; dann gibt es vorproduzierte Schattenspiele.

Mit Verzögerung erst realisiert der hörende Zuschauer, dass diese Schatten ein Eigenleben führen und zum Gegenüber der Bühnenakteure werden.

Zurückhaltende Raffinesse

Das alles ist legitimiert durch Massenets Musik. Anders als seine italienischen Kollegen Verdi und Puccini fällt der Franzose nicht mit der Tür ins Haus. Vielmehr bricht er den emotionalen Rausch des italienischen Verismus durch Eleganz und zurückhaltende Raffinesse, durch einen ans Kammermusikalische orientierten intelligent pointierten Orchesterklang, vor dessen Hintergrund die wenigen Ausbrüche umso erschütternder wirken.

Dieser Musikstil ist höchst anspruchsvoll, was die Philharmoniker der Leinweberstadt keineswegs daran hindert, eine ihrer reifsten Leistungen der laufenden Saison abzuliefern. „Coach" Kalajdzic hat ganz offensichtlich zielführende (und wohl auch harte) Trainingseinheiten durchgeführt.

Hinreißende Passagen

Dem singenden Werther Daniel Pataky (Tenor) gelingen nach der Pause wunderschöne, ja hinreißende Passagen. Nicht immer gefeit ist er vor einer gewissen Schärfe der Stimmgebung, die dem Klang eine gewisse Flachheit verleiht. Nohad Becker (Mezzosopran) überzeugt als Charlotte. Erotisches Flair in der Tiefe, warmer Glanz in der Höhe, eine Frau zwischen kindlicher Koketterie und dem schwurbewährten Verbot, den zu wählen, den sie liebt.

Sophie, Charlottes jüngere Schwester, ist Cornelie Isenbürger (Sopran) anvertraut. Mit blitzsauber geführter strahlender Stimme verkörpert sie die einzige Figur, die kaum von der tragischen Aura berührt ist. Albert, Charlottes Mann, von Massenet ein wenig stiefmütterlich behandelt, sieht in Frank Dolphin Wong einen stimmlich brillanten und zuverlässigen Sachwalter.

Durch alle Gefühlslagen

Orlando Klaus, das sprechende Alter Ego Werthers, bringt eine vielschichtige Person auf die Bühne. Mal dirigiert er die vier Handelnden, mal verliert er die dirigentische Distanz und lässt sich verwickeln, und sein Mienenspiel spiegelt den Schmerz, den Massenets Musik zu Protokoll gibt. Mal gibt er sich resignierend in sein Schicksal, und auch zur Schadenfreude kann er neigen.

Mit einem Wort, er gibt den Widerschein all der widersprüchlichen Gefühlslagen, die Massenet in seinem 1892 in Wien uraufgeführten „Drame lyrique" auf die Bühne gebracht hat. Wäre es ein Film, hätte er das Prädikat „besonders wertvoll" verdient.

Weitere Termine am 15. und 29. Dezember. Karten unter Tel. (05 21) 55 54 44. Weitere Infos und Termine im Netz unter www.theater-bielefeld.de