Es gibt so Abende, an denen wünscht man sich, in einer konzertanten Vorstellung zu sitzen. Oder zumindest einfach die Augen zu schließen, um sich ausschließlich auf die Musik konzentrieren zu können. Nicht, dass Jetske Mijnssens Inszenierung von Piotr Iljitsch Tschaikowskys Eugen Onegin per se unansehnlich wäre. Nein, das glatte, schlichte Bühnenbild und die historischen Kostüme sind durchaus hübsch anzusehen. Aber die Inszenierung spießt sich an so vielen Ecken und Enden mit dem Libretto, wie auch mit der Romanvorlage Puschkins, dass ich als passionierte Leserin dieser Geschichte besonders mit zwei Stellen so meine Probleme hatte.

Statt eines Briefes schickt Tatjana eine zusammengerollte Tischdecke an Onegin, zu Gunsten dieser Szene wurde Onegins explizite Feststellung "Sie haben mir geschrieben" in den Übertiteln gar zu "Sie haben mir eine Botschaft geschickt". Dass er und Tatjana schließlich im dritten Akt, bevor sie librettogemäß davon singt, ihrem Mann nie untreu werden zu können, die Nacht gemeinsam verbringen, ergibt ebenso wenig Sinn, lebt die Musik doch gerade von unerfüllter Leidenschaft und unmöglicher Liebe. Völlig unabhängig von Regieeinfällen war es aber ein musikalisch so hochkarätiger Abend, dass die Inszenierung im Grunde genommen ohnehin egal war.

Der absolute Star der Premiere, und bereits zur Pause heftig umjubelt, war die neue Chefdirigentin des Grazer Philharmonischen Orchesters, Oksana Lyniv, die sich als wahrer Glücksgriff des Opernhauses entpuppte. So konzentriert, präzise und elegant wie unter ihrem Dirigat hat man das  Orchester schon lange nicht mehr gehört. Schon die Ouvertüre begann Lyniv mit einem inneren Drängen der Musik und reizte auch sonst oft die Tempi – in beiderlei Hinsicht – bis aufs Äußerste aus. Besonders in der Briefszene schuf sie dadurch plastische Stimmungskontraste in Tatjanas Innenleben und auch im Wiedersehen mit Onegin im dritten Akt schien die Spannung und das Knistern zwischen den beiden Figuren regelrecht im Orchester zu entstehen. Dazu schien Lyniv dem Orchester die slawische Seele eingepflanzt zu haben, die Klangstimmungen des Orchesters waren von satten, dunklen Farben geprägt und mit einem ordentlichen Schuss Melancholie angereichert. Mit brodelnden Streichern, subtilen Bläsern und einem idealen Timing im Zusammenspiel aller Beteiligten erreichte das Orchester eine ungeheure Sogwirkung von Tschaikowskys Musik, die den Abend zu einem besonderen Erlebnis werden ließen.

Großen Anteil an der musikalisch rundum glücklich machenden Vorstellung hatten Oksana Sekerina und Dariusz Perczak als Tatjana Larina und Eugen Onegin. Beide waren ursprünglich gar nicht für diese Premiere vorgesehen, aber nach einigen Drehungen des Besetzungskarussells durfte man sich über diese wunderbare Besetzung freuen. Perczak nahm man zwar zunächst den nonchalanten Lebemann nicht so wirklich ab – seine Darstellung erinnerte mich mehr an Goethes romantischen Werther, denn an Puschkins arroganten Onegin – ab der Duellszene funktionierte diese Lesart aber erstaunlich gut. Stimmlich fand er mit strömendem Bariton schneller in die Rolle, berührte mit weichen Höhen und kräftig akzentuierten Passagen gleichermaßen. Besonders in der Verzweiflung des letzten Bildes blühte seine Stimme herrlich auf und konnte mit vielen emotionalen Schattierungen die zerrissene Figur des Onegin verdeutlichen.

Oksana Sekerina, die in Graz schon als noble Contessa Almaviva beeindruckte, bewies, dass ihrer Stimme die Rolle der Tatjana noch besser liegt, als die Mozart'sche Gräfin. Denn hier kann sie neben melancholisch gesponnenen, lyrischen Klangfäden auch mit leidenschaftlich dramatischen Ausbrüchen die ganze Bandbreite ihres Soprans auf bemerkenswerte Art und Weise präsentieren. All die konträren Empfindungen, Ängste und Gefühlsausbrüche der Figur legte sie so differenziert in ihre vokale Gestaltung, dass sie keines Bühnenbilds, keiner Inszenierung und auch keiner Übertitel bedurft hätte, um Tatjana zu einem lebendigen Charakter werden zu lassen.

Vom an drei Seiten geschlossenen Bühnenbild profitierte Pavel Petrov, der durch die vorteilhafte Akustik nie gezwungen war, seine Stimme zu forcieren, um problemlos über das oft energisch aufwallende Orchester zu kommen. Zart schmelzend timbriert und herzerweichend interpretiert hatte sein unglücklicher Lenski spätestens mit dem Abschied vom Leben im „Kuda Kuda“ das Publikum vollends erobert. Die kecke Olga an seiner Seite, die allerdings mehr an Dienstboten als am Poeten interessiert schien, erweckte Yuan Zhang zu blühendem Leben und steuerte samtig üppigen Mezzowohlklang bei. Alexey Birkus musste den Fürst Gremin als Pflegefall im Rollstuhl singen, wodurch sein Auftritt zunächst schon optisch jeglichen glanzvollen Effekts beraubt wurde. Und auch in der stimmlichen Gestaltung blieb er trotz seines angenehm sonorem Basses eher blass. Mit schön geführtem Mezzo gab Christina Baader eine herrschaftliche und in sich ruhende Larina; mütterlich energisch war Elisabeth Hornung stimmlich und darstellerisch präsent die Amme Filipjewna. Durchwegs positiv fielen der Chor sowie die kleineren Rollen auf, wobei Manuel von Senden als Triquet besondere Erwähnung dafür verdient, dass er in seinem hautengen  Kostüm inklusive fragwürdiger Frisur seinen Auftritt so würdevoll wie eben möglich absolvierte.

Besser musikalisch herausragend und szenisch halbgar, als umgekehrt: Der musikalische Aspekt des Abends versetzt in beglückende Tschaikowsky-Sphären, mit offenen Ohren und geschlossenen Augen ein klares Saisonhighlight!

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