Der Komponist, der aus der Wolke steigt

Aschenputtel hat Weihnachtskonjunktur: In Basel und Lyon ist Rossinis «La Cenerentola» in überraschend konträren Inszenierungen von Antonio Latella und Stefan Herheim zu sehen.

Christian Wildhagen, Basel/Lyon
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Komm mit in mein Reich: In Lyon lockt Rossini alias Don Magnifico (Renato Girolami) das Aschenputtel (Michèle Losier) höchstselbst in die Zauberwelt des Märchens. (Bild: Jean-Pierre Maurin / Opéra de Lyon / PD)

Komm mit in mein Reich: In Lyon lockt Rossini alias Don Magnifico (Renato Girolami) das Aschenputtel (Michèle Losier) höchstselbst in die Zauberwelt des Märchens. (Bild: Jean-Pierre Maurin / Opéra de Lyon / PD)

Kinder brauchen Märchen. So stellte der mittlerweile umstrittene Psychoanalytiker Bruno Bettelheim einst in einem gleichnamigen Bestseller fest. Aber auch gross gewordene Kinder, die einen Teil ihrer blühenden Phantasie ins Erwachsenenalter hinübergerettet haben, sehnen sich von Zeit zu Zeit nach dem Zauber einer Gegenwelt, in der Übersinnliches und Ausseralltägliches geschieht. Denn eines ist dabei gewiss: Mag es im Reich der Märchen auch noch so wimmeln von Hexen, bösen Stiefmüttern und fiesen Zwergen – am Ende siegt doch (fast) immer das Gute. Angesichts einer realen Welt, in der solch glückhafter Ausgang keineswegs garantiert ist, mag uns das nur willkommen sein, zumal zur Weihnachtszeit.

Kein Wunder also, dass gleich zwei Opernhäuser dieser Tage Gioachino Rossinis hinreissende Buffa «La Cenerentola» auf den Spielplan setzen – mithin das ewig junge Aufsteiger-Märchen vom Aschenputtel, das sich vom gedemütigten Mauerblümchen zur Königin mausert. Das Theater Basel präsentiert das 1817, vor zweihundert Jahren, in Rom uraufgeführte Werk in einer Neuinszenierung von Antonio Latella, dem Leiter der Theatersparte an der Biennale di Venezia. Die Opéra de Lyon hingegen zeigt eine Regiearbeit von Stefan Herheim, die als Koproduktion mit der Nationaloper Oslo entstand. Die beiden Aufführungen könnten unterschiedlicher nicht sein.

Zauber der Verwandlung

Bei Herheim bildet der Gegensatz von herzerwärmender Märchenwelt und kalter Realität den Rahmen für seine wieder einmal mit allen Mitteln der theatralen Verzauberung in Szene gesetzte Erzählung. Angelina, das Aschenputtel, ist bei Herheim zunächst eine geplagte Putzfrau, die den Dreck der letzten Party von der leeren Bühne fegen muss. Da fällt ihr, zur vom Dirigenten Stefano Montanari fulminant entfesselten Ouvertüre, aus dem Bühnenhimmel ein Märchenbuch direkt vor die Füsse. Fallen gelassen hat es Rossini selbst, der gleich darauf leibhaftig aus einer Wolke zur Erde niedersteigt, die obligatorische Komponistenfeder (ein beliebtes Selbstzitat Herheims seit seiner Berliner «Lohengrin»-Inszenierung) und ein mächtiges Embonpoint im Reisegepäck. Cenerentola beginnt zu lesen, und der Zauber der Verwandlung beginnt.

Wie immer bei Herheim, der diesmal zusammen mit Daniel Unger auch das raffinierte Bühnenbild entworfen hat, wird dafür so ziemlich alles in Bewegung gesetzt, was die moderne Technik einschliesslich Videoprojektionen hergibt. Ein unscheinbarer Kamin kann sich da plötzlich vervielfältigen und in einem atemberaubenden Szenenwechsel wie zu Zeiten des seligen Walt Disney zu einem prachtvollen Theaterportal anwachsen. Aus diesem bühnenhohen Cheminée springt der Funke schon während der ersten Minuten direkt ins Publikum, und Feuer, Rauch und Asche bilden stoffgemäss auch weiterhin die Leitmotive der mit äusserster Spielfreude und gedanklicher Präzision durchgestalteten Inszenierung.

Bei Latella und der mit Rauminstallationen bekannt gewordenen Künstlerin Antonella Bersani, die in Basel das Bühnenbild verantwortet, verwandelt sich dagegen wenig. Eine poetische Asche-Blume, die sich am Ende ein bisschen entfalten wird, überragt die sonst fast leere Bühne. Das in Lyon so virtuos entfesselte Geschehen braucht im Schatten dieser Basler Wunderblume viel länger – und für eine Komödie entschieden zu lange –, um in die Gänge zu kommen. Das ist schade, denn eigentlich verfolgt Latella im Vergleich das kühnere Konzept.

Angelina (Vasilisa Berzhanskaya) ist in Basel die Leidtragende einer dysfunktionalen Familie. (Bild: Priska Ketterer / Theater Basel / PD)

Angelina (Vasilisa Berzhanskaya) ist in Basel die Leidtragende einer dysfunktionalen Familie. (Bild: Priska Ketterer / Theater Basel / PD)

Er macht aus der klassischen Story vom hässlichen Entlein, das seinen Prinzen trifft, eine Geschichte der Irrungen und Wirrungen zwischen den Geschlechtern. Don Ramiro, vom jungen Tenor Juan José de León mit flammenden, in den besten Momenten an Juan Diego Flórez erinnernden Spitzentönen gesungen, ist nämlich in Basel offensichtlich mit seinem Jugendfreund Dandini (Vittorio Prato) liiert. Als sich Ramiro dennoch Hals über Kopf in Cenerentola verguckt, entspinnt sich ein Dreiecksspiel aus Eifersucht und gegenseitiger Anziehung, das der melancholische Philosoph Alidoro (Tassos Apostolou) als heimlicher Strippenzieher nach allen Regeln Brechtscher Theaterkunst vorantreibt. Als die Verwirrung komplett ist und niemand mehr weiterweiss, rettet man sich kurzerhand – Goethes «Stella» lässt von ferne grüssen – in ein Plädoyer für polygame Lebensformen: «Ehe für alle», beim Wort genommen.

Dysfunktionale Familie

Ganz anders Herheim: Er meidet alles Psychologisieren und setzt auf eine – nicht zuletzt mithilfe der Kostüme von Esther Bialas – herrlich überzeichnete Typenkomödie. Darin werden en passant gleich auch noch die Geschichte des Belcanto, Rossinis Koch- und Esslust sowie die allerschrillsten Opernklischees durch den Kakao gezogen. Während Herheim hierfür die Rolle des Don Magnifico (Renato Girolami) zum Rossini-Wiedergänger und Conférencier des Geschehens aufwertet, der in seiner Szene «Là del ciel nell'arcano profondo» sogar im Himmel selbst für Cenerentola vorstellig wird, bleibt Basels Magnifico (Andrew Murphy) ganz der böse Stiefvater, der Angelina in unheilvollem Bund mit ihren Stiefschwestern nach Strich und Faden kujoniert.

Einer Ménage-à -trois nicht abgeneigt: Vasilisa Berzhanskayan (Angelina), Juan José de Léon (Don Ramiro) und Vittorio Prato (Dandini) am Schluss der Basler Produktion. (Bild: Priska Ketterer / Theater Basel / PD).

Einer Ménage-à -trois nicht abgeneigt: Vasilisa Berzhanskayan (Angelina), Juan José de Léon (Don Ramiro) und Vittorio Prato (Dandini) am Schluss der Basler Produktion. (Bild: Priska Ketterer / Theater Basel / PD).

Dass in dieser dysfunktionalen Familie noch manch anderes schiefläuft, deutet eine Art lebensgrosses Sennentuntschi an, das jedem Protagonisten als Spiegel seines Seelenzustands vor den Bauch geschnallt ist (Kostüme: Graziella Pepe). Leider weiss Latella dann aber wenig mit diesen – teilweise übel zugerichteten –Stellvertreterpuppen anzufangen; dabei hätten sie der Märchenoberfläche, wiederum im Sinne Bettelheims, tatsächlich eine psychologische Tiefenschicht verleihen können. In der stimmlich gerade mit ihrer selbstbewussten Zurückhaltung beeindruckenden Mezzosopranistin Vasilisa Berzhanskaya hätte der Regisseur obendrein die ideale Interpretin für eine derart aufs Innere gerichtete Sichtweise besessen.

Bei Herheim bleibt dagegen alles ein unbeschwerter Spass – bis auf das absehbare Ende. Kaum hat Cenerentola in ihrem grossen Finalrondo «Nacqui all'affanno» alle familiären Widersacher durch grossmütiges Verzeihen beschämt (wobei der wandlungsfähigen Michèle Losier in Lyon die Koloraturen leichter in der Kehle liegen als der hier etwas angestrengten Berzhanskaya); da findet sie sich, jäh vom guten Geist Rossinis und allem Kulissenzauber verlassen, auf der nackten Bühne wieder. Schnöde alleingelassen mit ihren Wischlappen und ihrem Putzwagen, der eben noch eine unter Feuer, Blitz und Ascheregen sechsspännig ins Glück sausende Kutsche war. Was für ein Jammer! Es steigt einem schliesslich nicht jeden Tag ein Rossini aus der Wolke.