Donnerstag, 25. April 2024

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„Carmen“ an der Deutschen Oper Berlin
Stumpfes, denkfaules Niveau

Bei Ole Anders Tandbergs "Carmen"-Inszenierung musste das Konzept wegen eines Wasserschadens gründlich angepasst werden. Wegen technischer Probleme ging vieles schief, doch die Künstler an der Rampe und im Graben konnten einiges retten, meint Kritiker Uwe Friedrich.

Von Uwe Friedrich | 21.01.2018
    Ya-Chung Huang (als Remendado), Nicole Haslett (als Frasquita) und Ensemble während der Fotoprobe zu Carmen in der Deutschen Oper Berlin.
    Carmen in der Deutschen Oper Berlin (imago / Martin Müller)
    Als Zeichen seiner Liebe hat Torrero Escamillo dem von ihm erlegten Stier die Hoden abgeschnitten und sie Carmen überreicht. Die spielt dann zur Freude des Publikums mit dem Gekröse, während sie von der Unberechenbarkeit ihrer Emotionen singt. Schließlich wirft sie die Plastikinnereien in den Orchestergraben der Deutschen Oper Berlin, was für steigende Heiterkeit im Zuschauerraum sorgt.
    Überhaupt wird viel gekichert und gelacht an diesem verunglückten Premierenabend, wenn auch aus den falschen Gründen. Denn der norwegische Regisseur Ole Anders Tandberg meint es offenbar vollkommen ernst, wenn er Micaela von einer maschinengewehrtragenden Soldateska mit ihren Penisersatzwaffen beinahe vergewaltigen lässt.
    Konsequente Entfernung alles Genrehaften
    Die frustrierten Männer vollführen Beischlafgymnastik mit einer Wellblechwand bis sie tot umfallen. Eine Statistenschar irrt in spanischer Witwentracht über die Bühne als wäre sie auf der Suche nach Bernarda Albas Haus.
    Eine einfache Geschichte über die zerstörerische Macht unterschiedlicher Liebes- und Partnerschaftskonzepte wäre für einen ambitionierten Regisseur wie Tandberg natürlich zu simpel, konsequent entfernt er alles Genrehafte aus dem Werk, weil wir bekanntlich in einer brutalen und erbarmungslosen Welt leben.
    Ärgerliche Umbaupause mitten im 3. Akt
    Die unentwegt kreiselnde Tribünenarchitektur von Erlend Birkeland ächzt vernehmlich auf den wegen des katastrophalen Wasserschadens an der Deutschen Oper eigens eingebauten neuen Motoren. Die ärgerlichste Umbaupause mitten im dritten Akt hat allerdings nichts mit technischen Einschränkungen zu tun, sondern entsteht bloß, weil der Regisseur nicht weiß, wie er sonst den Gespensterchor in Bettlaken von der Bühne bekommen soll, um Platz für die getöteten Flüchtlinge zu schaffen. Die Tabak- und Kaffeeschmuggler hat Tandberg nämlich zu Flüchtlingsschleppern und Organhändlern umgedeutet.
    Carmen, Mercédès und Frasquita lesen deshalb die Zukunft aus menschlichen Nieren statt aus den Karten und treiben auch sonst allerlei Schabernack mit dem wertvollen Handelsgut. Weil man nie weiß, wie dumm das Publikum tatsächlich ist und Regisseure, Dramaturgen und Intendanten immer gerne das Schlimmste annehmen, kann es dabei nicht plakativ genug zugehen, so dass Don José der toten Carmen zum Schluss noch ruckzuck das blutende Herz aus der Brust schneidet und es als Trophäe hochhält.
    Kraftvolle Sänger, straffe Orchesterleitung
    Auf diesem stumpfen und denkfaulen Niveau hangelt sich der Abend durch die Handlung und beweist doch nur, dass Oper auch unter solchen Umständen gerettet werden kann, wenn intelligente Künstler an der Rampe und im Graben versammelt sind.
    Im knallroten Flamencokleid singt Clémentine Margaine mal kraftvoll zupackend, mal verhalten, als wundere Carmen sich selbst über die Macht, die sie über die Männer hat. Charles Castronovo ist ein hinreißender Don José, gesangstechnisch perfekt, ebenso furcht- wie mühelos in seinen Arien, ein rundum überzeugender Soldat auf Abwegen.
    Ihn kann auch Heidi Stober als ergreifend unsentimentale Micaela nicht wieder auf den Pfad der Tugend bringen, während nicht nur Carmen für den Escamillo von Markus Brück schwärmt. Der Dirigent Ivan Repušić leitet das Orchester straff und abwechslungsreich, der Chor singt gut, wenn auch nicht allzu präzise, der Kinderchor ist großartig.
    Musikalisch gut bis sehr gut, szenisch untermittelprächtig bis indiskutabel: So fügt sich auch diese "Carmen"-Premiere nahtlos in das Bild der Deutschen Oper Berlin unter ihrem Intendanten Dietmar Schwarz.