Vielleicht, das Gefühl hat man ja gern in der Oper, sollte man einfach die Augen schließen. Weil man dann alles sieht. Weil sich, was man hört, gegen alles wehrt, was man sieht und noch schlimmer: überhaupt sehen könnte.
Weil man schon alles gesehen hat, was man anstellen könnte mit dem oder gegen das, was man hört. Weil man sich in manchen Fällen möglicherweise einigen könnte darauf, dass es auf ein Stück eigentlich nur eine szenische Antwort geben kann, auch wenn die schon 30, 40 Jahre alt ist.
Opern-Franchise? Warum eigentlich nicht
Und die könnte man dann zeigen und neue Musik dazu machen. Neue Sänger singen lassen. So eine Art Franchise-Unternehmen für Musiktheaterregie. Das Andrew-Lloyd-Webber-Prinzip für Weber und Wagner.
Das macht Musiktheater garantiert günstiger und könnte manchen Opern, die es vielleicht wert wären, Rückenwind bringen für die Reise an die Ränder der Musiktheaterlandschaft. Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ sind so ein Fall.
Vor gut 40 Jahren hatten Hans Neuenfels und Michael Gielen in Frankfurt die erotomanische Künstler- und Versehrtenoper wiederentdeckt. An der Stelle, wo das ziemlich verschwurbelte Drama vor gut 100 Jahren uraufgeführt wurde.
Und zum Erfolgsstück avancierte. Wofür es mehrere Gründe geben könnte. Weil Richard Strauss vielleicht als Konkurrent weitgehend ausfiel in der Zeit, bis Schrekers Hochzeit 1924 zu Ende war, weil Schrekers fiebrige Partitur in einer fast schon modernen Retro-Vintage-Art mit gepflegten, halb gewagten Modernismen noch einmal alles aufmixte, was nach Jahrhundertwende klang und so den musikalischen Nostalgiebedarf deckte.
Die Nazis hatten der Karriere und letztlich dem Leben des zwischen Moden und Modernen festsitzenden Schreker mehr oder weniger den Garaus gemacht. So erfolgreich, dass es bis in die Jahre der Wiederentdeckung der sogenannten entarteten Musik dauerte, bis – vom Frankfurter Erweckungsakt an – neben den „Gezeichneten“ noch Schrekers „Der ferne Klang“ (1912) und „Irrelohe“ (1924) zumindest wieder halbwegs regelmäßig im Spielplan auftauchten.
Ein Eiland namens Elysium
Schrekers Dreiakter handelt vom allmählichen Verenden des Renaissance-Granden Alviano Salvago. Er ist ein bucklig Männlein, das sein Begehren sublimiert und umleitet in eine Insel der Schönheit vor Genua, auf die regelmäßig die reizvollen Töchter der Genueser entführt werden.
Elysium heißt das Eiland. Dass die adlige Spitze der Gesellschaft in den dunklen Untergründen des Elysiums blutige Orgien feiert, weiß Salvago, es ist ihm zuwider, er will damit Schluss machen, den Unterhaltungspark dem Volk opfern.
Gezeichnete, sich verzehrende Versehrte
Da verliebt er sich in die Malerin Carlotta, die seine Seele malen will und deren Schönheit, die wiederum vom zynischen Machtsexmonster Tamare begehrt wird. Gezeichnete, sich verzehrende Versehrte allesamt. Es geht um Erlösung und drunter und drüber.
Ein Musiktheater der restsüßen Grausamkeit. Auskomponierte Psychoanalyse. Blut fließt, Menschen sterben, Gehirne drehen durch.
Ein obrigkeitsgetriebener Päderastenzirkel
Calixto Bieito, der Chefdurchdreher des Musiktheaters, hatte an Berlins Komischer Oper wahrscheinlich relativ rasch gemerkt, dass er mit Durchdrehen, mit Verdoppeln der Klangorgie nicht weiterkommt. Einen singenden Kunstessay zu veranstalten, wie Krzysztof Warlikowski unlängst in München, liegt ihm eh nicht.
Also dreht er an der Plotschraube, bis die Psychologie quietscht. Und erzählt (wie in letzter Zeit etliche Kriminalfilme) von einem obrigkeitsgeduldeten und -getriebenen Päderastiezirkel.
Orgien finden nicht statt
Salvago kommt ohne körperliche Gebrechen aus, sublimiert aber im neonstabbeleuchteten Neverland namens Elysium seine Kinderliebe. Missbraucht wird jeder. Inklusive eines gigantischen grünen Plüschbären.
Orgien finden nicht statt. Gesichter von geschundenen Kindern werden projiziert. Und Gesichter von Erwachsenen beim Sexualakt. Alles steht gern im klinisch weißen Geviert.
Und weil der Skandal so skandalös ausfällt, kann man – bevor man vor Langeweile entschlummert – getrost die Augen schließen. Da hört man auch besser, wie großartig Michael Nagy (Tamare) und Peter Hoare (Salvago) und Ausrine Stundyte (Carlotta) allem Inszenierungsirrsinn tapfer trotzen und den andauernden orchestralen Überwältigungsversuchen.
Und wie Stefan Soltesz am Pult alle Farbschichten des stets orgien- und exzessbereiten Zweieinhalbstundengemäldes durchhörbar macht, bezwingend und soghaft vorführt, aus welchen Bestandteilen Schrekers voraussetzungslos zu genießende Klangfarbenemulsion besteht.
Klingt schon manchmal nach Musical. Wäre noch ein Argument für die Franchise-Oper. Aber wir wollen nicht übertreiben.