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Foto: Iko Freese / drama-berlin.de
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Missbrauch im Kuschelland-Elysium – Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ an der Komischen Oper Berlin

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Der skandalumwitterte Regisseur Calixto Bieito, der an der Komischen Oper Berlin unter anderem mit einer drastisch ins Rotlichtmilieu der Gegenwart verlagerten „Entführung aus dem Serail“ für Aufregung gesorgt und die Werteskala dessen, was auf der Bühne an extremen Obszönitäten machbar ist, neu bestimmt hat, schien für Franz Schrekers Skandal-Oper „Die Gezeichneten“ ein optimaler Inszenator.

Zu den Markenzeichen des katalanischen Regisseurs, der vor extremsten Sexszenen auf der Bühne nicht zurückschreckt, gehört es auch, Erwartungshaltungen zu brechen. Und das tut er mit der 1917 in Frankfurt uraufgeführten Oper über die von einem missgebildeten Mäzen erschaffene Lust-Insel Elysium in mehrfacher Hinsicht. So orientiert sich der Regisseur weder am Wortlaut von Schrekers selbst verfasstem Libretto und nur überaus selten an dessen Musik, die hier mit teilweise extremen Kürzungen dargeboten wird. Während der Dichterkomponist zwischen Gesellschaftsschichten, zwischen Legislative und Exekutive rund um die von einer adeligen Clique auf der abgeschiedenen Insel vollführten Lustmorde unterscheidet, sind solche Differenzierungen für Bieito unwichtig, denn heute haben alle gleichermaßen „Dreck am Stecken“. Und dieses Urteil betrifft hier wieder einmal den sexuellen Missbrauch von Kindern.

Der Gezeichnete Alviano ist in dieser Inszenierung weder hässlich noch buckelig, sondern geistig verkrüppelt: seinen Drang, Knaben zu missbrauchen, lebt er nur in der Fantasie und an einer Knabenpuppe aus. Seine Umwelt ist vergleichsweise handgreiflicher, wie der Podesta der Stadt, welcher ein lebensgroßes Mädchen auf seinem Rücken mitschleppt und mit seiner Tochter Zungenküsse tauscht; und die Senatoren führen Knaben mit sich, die sie mit Händen vor deren Gesichtern und mit Züchtigungen per Hosengürtel in Schach halten. Der schöne Tamare hat mit dem Herzog Adorno ein Sado-Maso-Verhältnis, und er missbraucht schließlich jenen Knaben, auf dem Alvianos Fantasien gegolten hatten.

Nicht ganz klar ist die Problematik der zweiten titelgebenden Gezeichneten, der Malerin Carlotta. In Schrekers Original kämpft sie mit einer psychosomatischen Herzkrankheit als Angst vor dem Orgasmus. In der Bietos Erstaufführung ist sie eine Sex-Maniac, die den Männern sofort in die Hose fasst, obendrein aber offenbar auch ein Gender-Problem hat, schwankend, ob sie Männlein oder Weiblein ist. Ihre Annäherung an Alviano passiert über dessen Kinderpuppe, schließlich sogar in deren Outfit.

In der Atelierszene agiert Carlotta statt mit dem Pinsel mit einem Messer, mit welchem sie sich und ihrem Kurzzeitpartner Alviano einen Fluchtweg in eine andere Welt schneidet und hackt. Doch dann verliert sie das Interesse an ihm, lässt sich mit dem schönen Tamare ein, den sie jedoch erwürgt, um anschließend, auf ihm sitzend, nach ihm zu fragen. Und gemäß Spielvorlage wird dann auch Alviano wahnsinnig.

Für die pausenlos gespielten ersten beiden Akte hat Bühnenbildnerin Rebecca Ringst einen weißen Proszenium-Raum geschaffen, unverändert bis auf Projektionen von verängstigten oder geschlagenen Kindergesichtern, Tränen und rabiat dreinblickenden Männern (Video: Sarah Derendinger).

Die Randfiguren der Handlung sind weitgehend ausgeblendet, die köstlichen Szenen diskutierender Handwerker und überforderter Eltern komplett gestrichen. Alvianos Hausangestellte Martuccia (Christiane Oertel) und Pietro (Christoph Späth) kommunizieren ebenso nur auf Abstand, wie auch das barbiepuppenmäßige Liebespaar im dritten Akt (Mirka Wagner und Emil Ławecki), dessen Jüngling sich entgegen Schrekers Szenenanweisungen nicht die Kleider vom Leib reißt oder sich zu erdolchen droht (was dem Regisseur, der in anderen Inszenierungen gerne mit derartigen Bildern spielt, schwergefallen sein dürfte).

Kuscheltier-Kinderland

Denn das Elysium ist hier ein Kuscheltier-Kinderland. Dafür öffnet sich die Bühne mit Beginn des dritten Aktes nach hinten. Ein Leuchtschriftzug „Elysium“ und zahlreiche gegenläufig geführte LED-Streifen bilden das „viele Licht und am Himmel die Sterne“ – eine Textstelle, die in dieser Aufführung allerdings gestrichen ist. Anschließend sinken, – wie in der Erfurter Uraufführung von E. T. A. Hoffmanns Oper „Der Trank der Unsterblichkeit“ die farbigen Katzen – hier farbige Plüsch-Teddybären aus dem Schnürboden. Die Szene bevölkert sich mit Kindern und deren Groß-Spielzeug, Dinosauriern, Robotern und diversen Kuscheltieren. Dazu kreist eine Spielzeugland-Eisenbahn, zunächst nur mit dem kindlichen Lustobjekt Alvianos, dann mit immer mehr bewegungslosen Kindern angefüllt.

Alvianos Freunde, die adeligen genuesischen Mörder (Adrian Strooper, Ivan Turšić, Tom Erik Lie, Johnathan McCullogh, Önay Köse und Samuli Taskinen) treten an diesem Abend kaum in Erscheinung, bleiben statisch in der engen Raumanordnung der ersten beiden Akte. Das Opfer, welches den Kriminalfall ins Rollen bringt, die geraubte Ginevra Scotti, ist ein Mädelchen, das im Geschenkkarton angeliefert wird. In einem solchen Geschenkkarton hatte Alviano als Präsent der ihn umgebenden Kindergeburtstagsgesellschaft im Vorspiel (Rückblick?) seine Puppe empfangen, während der gleiche Karton, den die Kinder ihm im Vorspiel zum zweiten Akt mit einem stummen „Happy Birthday to you!“ zum Geburtstag schenken, leer ist – und Alviano wird ausgelacht. Da kommen offenbar frühkindliche Verlustängste mit ins Spiel.

Jene Episode im dritten Akt, in welcher auf der für das Volk freigegebenen Insel ein Kind entführt wird, ist gestrichen. Stattdessen wird die kindliche Darstellerin der Ginevra Scotti im blutüberströmten, rosafarbigen Kinderkleidchen (Kostüme: Ingo Krügler) aus dem Geschenkkarton geborgen; ihren Satz „im Hause des Alviano Salvago“ übernimmt für sie eine singende Kollegin (Katarzyna Włodarczyk), welche die Leiche in den Armen hält.

Ein Glücksfall ist die Besetzung ist Alviano mit Peter Hoare, der diese Partie bereits in der spektakulären Inszenierung in Palermo und jüngst auch in St. Gallen verkörpert hat: ein Tenor mit vielen Nuancen und – bis gegen Ende des Premierenabends – mit der erforderlichen dramatischen Durchschlagskraft. An Intensität ist in dieser Partie jedoch Gabriel Sadé in den Inszenierungen von Martin Kusej in Stuttgart und Amsterdam unerreicht. Wie stets, eindrucksstark ist Jens Larsen hier auch in der Reduktion als Podestà der Stadt Genua. Kraftvoll setzt Michael Nagy seinen stimmschönen Bariton für den kraftvollen Graf Andrae Vitelozzo Tamare ein. Konzeptionsbedingt farblos bleibt dagegen ist Joachim Goltz als Herzog Antoniotto Adorno und Capitaneo di Giustizia (ohne die zugehörige, dem Volk hörbar Angst machende „Acht“) – insbesondere im Vergleich mit der Maßstäbe setzenden Interpretation dieser Rolle durch Günter Reich in der Frankfurter Wiederaufführung dieser Oper im Jahre 1979, inszeniert von Hans Neuenfels.

Ausrine Stundyte, die im Spiel den Intentionen von Bietos Regie folgende Sängerdarstellerin der Carlotta, mimt anfangs einen Vamp in zerrissenen Strumpfhosen, schlüpft dann in einen Blaumann und ist am Anfang des dritten Aktes kaum wiederzuerkennen, wenn sie in einem Goldlurex-Kostüm und mit roter Perücke  tanzt und sich krümmt. Stimmlich vermag die Sopranistin den Anforderungen dieser Partie kaum zu genügen, abgesehen von Text-, Intonations- und Textverständlichkeits-Problemen. In der gebotenen erotischen Ausstrahlung bleibt Eva Westbroek (Stuttgart, Amsterdam) unerreicht.

Der von David Cavelius einstudierte, sonst gerade im Spiel und in der Verkörperung kleiner Parteien kaum zu übertreffende Chor der Komischen Oper bleibt diesmal mit seinen Aufgaben arg unterfordert. Der vokale Einsatz im Schlussbild dieser Oper unterbleibt völlig. Bewundernswert dagegen die Präsenz der Kinderkomparserie.

Stefan Soltesz ist inzwischen zu einem Spezialisten für diese Partitur geworden. Das Orchester der Komischen Oper, transparent und luzide in den spezifischen Mischklängen von Schrekers Partitur, der Bitonalität mit überaus sinnbetörender Wirkung, klingt erstaunlicherweise besser als der vom selben Dirigenten an der Oper der Stadt Köln geleitete Klangkörper. Ebenfalls erstaunlich, dass der Graben der Komischen Oper Schrekers extrem großen Orchesterapparat zu fassen vermag; nur zwei Harfen auf der linken Seite und auf der rechten Seite die Celesta, konzeptionsbedingt hier nicht in den Proszeniumslogen zu positionieren, zeigen, dass das Haus mit einer solchen Aufführung an seine Grenzen gestoßen ist, die es aber siegreich übersprungen hat.

Das Premierenpublikum zeigte sich angesichts der Diskrepanz zwischen gesungenen Wort – und der auch in der Rundfunkwerbung der herkömmlichen Handlung folgenden Ankündigung – und der so ganz anderen szenischen Umsetzung überfordert. Manche, die das Haus in der Pause verließen, befürchteten wohl, die schwarz-weiße, an eine halbszenische Aufführung erinnernde Umsetzung werde auch im dritten Akt fortgesetzt. Doch jene, die geblieben waren, wunderten sich über die dann farbigen Videoprojektionen und die üppige Plüsch- und Kunststofffarbigkeit im dritten Akt.

Als Zeichen seines Wahnsinns durchbricht Alviano im Spiel die vierte Wand: er nimmt, gemeinsam mit seiner Puppe, die Zuschauer wahr.

Die feierten am Ende die musikalische Seite mit Bravorufen, mit geteiltem Applaus den brav gewordenen Regisseur und sein Team.

  • Weitere Aufführungen: 27. Januar,. 1., 10., 18. Februar und 11. Juli 2018.

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