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Kindesmissbrauch in Elysium

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Ausrine Stundyte als Carlotta.
Ausrine Stundyte als Carlotta. © Ralf Hirschberger (dpa-Zentralbild)

Franz Schrekers "Gezeichnete" in einer musikalisch prächtigen, szenisch eindimensionalen Lesart in Berlin.

Franz Schrekers „Die Gezeichneten“, vor hundert Jahren in Frankfurt uraufgeführt, ist ein gedanklich kompliziertes, musikalisch rauschhaftes, zeittypisches und doch weiterhin packendes Werk. Zur überzeitlichen Auseinandersetzung zwischen Kunst und Leben kommt die, soweit möglich, konkrete Beschäftigung mit Otto Weiningers schwummerigen Vorstellungen der Frau als selbst triebunfähiges Sexualobjekt. Zeittypisch und aus verschiedenen literarischen Vorlagen kombiniert – darunter Frank Wedekinds „Hidalla“ – fügt Schreker seine Motive bestürzend modern und offenherzig zusammen: unterdrückte, sublimierte sowie brutalst ausgelebte Sexualität; die über Leichen gehende Libertinage derer, die es sich leisten können (hier in direktem Anschluss an jeden vierten „Tatort“); das Scheitern der Kunst und der Schönheit an Kraft und Gewalt des Triebs; der stigmatisierte Außenseiter als Opfer und Täter.

Es ist ja ausgerechnet der missgestaltete Edelmann Alviano Salvago, der für sich keine Chance auf Trieberfüllung sieht und der Liebe abgeschworen hat, von dem die Devise für die Untaten auf der von ihm geschaffenen Kunstinsel Elysium ausgeht: „Die Schönheit sei Beute des Starken.“ Seinem Gegenstück Tamare – einem schönen, aber innerlich wüsten Menschen – dient der Satz als theoretischer Überbau für seine Verbrechen. Für Alviano mag es ein mit Blick auf sich selbst resignativer Gedanke sein, gleichwohl zieht es ihn in die Ereignisse auf der Insel hinein – er wollte es nicht und hat doch alle Voraussetzungen geschaffen –, wie sich überhaupt die Frage stellt: Was dachte er, was seine adligen Kumpel dort tun, während die Bürger der Stadt Genua seit einiger Zeit das Verschwinden ihrer Töchter beklagen.

Schrekers Musik bringt das zum Schwirren und Schwingen, die Sehnsucht und die Sucht nach Schönheit und die hässlichsten Triebe. Und es ist bewundernswert, wie Stefan Soltesz und das Orchester der Komischen Oper Berlin diesen Weg mitgehen: einen Rausch schaffen, in dem nicht alles verschwimmt, sondern eine maximale Transparenz herrscht und eine zivile Zartheit, die Schreker so angemessen ist und nicht zuletzt den Singenden wunderbar Raum gibt. Da ist nichts, wogegen sie anschreien müssten.

Calixto Bieitos Inszenierung bringt das hingegen auf einen Punkt, aber wirklich nur einen. Die lüsternen Adligen sind für ihn Päderasten, auch Alviano selbst liebt Kinder, gönnt sich aber allein ein Peter-Pan-Syndrom: feiert Kindergeburtstage, bei denen er selbst eine kleine Puppe geschenkt bekommt – quasi als selbstgewählten Ersatz für den am Rande stehenden Jungen, offenbar das zentrale Objekt seiner weggedrängten Begierde. Die Insel Elysium hat Rebecca Ringst als dunkles, gut gefülltes Kinderspielparadies ausstatten lassen. Während die Musik und der Text die komplexe, aufwühlende Annäherung Alvianos und der herzkranken (dadurch gleichfalls gezeichneten) Malerin Carlotta schildern, macht Bieito klar, dass erst ihre Verwandlung in ein Kind Carlotta für Alviano interessant macht – die fleischgewordene Puppe, ein Junge, aber sozusagen ein erwachsener, zugänglicher.

Die eine Idee überlagert alles. Eine Kinderschar hockt traurig zwischen dem herrlichen Spielzeug, Alvianos Freunde führen Kinder grob mit sich. Videos und Videostills (Sarah Derendinger) zeigen im Hintergrund und auf einem großen weißen Bühnenrahmen ernste Kindergesichter, einigen sind Misshandlungen anzusehen. In einer Szene wird ein Kind auf der Bühne geschlagen, aber so, dass kein Zuschauer annehmen kann, es würde ihm auch nur ein Haar gekrümmt. Einerseits deutet Bieito einen etwas platten Skandal an, andererseits spürt man in fast jeder Szene die Bemühung, auf keinen Fall explizit zu werden, nicht zuletzt wäre das angesichts der anwesenden Kinder unerträglich.

Was auch immer sonst noch der Grund ist: Viel umwundener Sex ist jedenfalls eine Folge. Unter anderem scheint es wiederum Carlottas geheimes Begehr zu sein, mit einem übermannsgroßen grünen Stoffteddybären zu kopulieren.

Bevor sich die Bühne nach der Pause Richtung Spielzeug-Elysium öffnet, findet das Geschehen vor einer als Videofläche – für die Kindergesichter – genutzten weißen Wand statt. Selbst wenn man den Kontrast zwischen opulenter und vielsagender Musik und nüchterner Umgebung zunächst reizvoll finden mag, so zeigt sich bald, dass wirklich einfach sehr wenig geschieht. Die Männer in gutgeschnittenen Anzügen (Kostüme: Ingo Krügler) sollen vorerst auch gar nicht viel mehr machen, als zu stehen und zu gehen. Imposant allerdings, wie die Sängerdarsteller dennoch transportieren können, wer sie sind: Peter Hoare und Michael Nagy sehen sich nicht mal unähnlich, und doch ist Hoares Alviano in der dezenten Defensive, Nagy ein Raumverdränger. Sie könnten in einem Krimi vorkommen, alles Karikatureske wird später an Nebenfiguren durchexerziert. Im Zentrum agieren Menschen des Hier und Heute. Eine moderne Figur ist auch Ausrine Stundyte als Carlotta, wenngleich unklarer. Warum bringt sie Tamare um? Muss eine Inszenierung unlogischer sein als ein ausreichend anspruchsvolles Textbuch?

Stimmlich ist das ein großes Trio. Soltesz lässt, auch hier eins mit Schreker, schön singen. Das Hässliche in Tamare verbirgt sich nicht nur im angenehmen Äußeren, sondern auch hinter Nagys balsamischen Bariton. Hoares ist ein Charaktertenor, aber ohne Grellheiten. Stabil exzellent: Stundytes zum Hochdramatischen tendierender Sopran.

Obwohl sie Alvianos Bild mit einiger Wucht in die weiße Wand schneidet, bleibt sie ein Konstrukt in einer Lesart, die ihrem eigenen 1 Punkt folgt. Trotz offenkundiger Präsenz wirkt sie immer wieder wie Staffage, wie auch die Kinder, bei denen das schmerzvoller und unangenehmer wirkt. Selbst für ein großes Haus ist der Bedarf an Solostimmen, zumal männlichen, enorm und wird sehr gut bewältigt. Die musikalische Seite überflügelt die Inszenierung weit mehr, als sich eine lebendige Musiktheaterbühne das leisten sollte.

Komische Oper Berlin: 27. Januar, 1., 10., 18. Februar. www.komische-oper-berlin.de

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