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Deutsche Erstaufführung: „Doktor Schiwago“ triumphiert in Leipzig

Liebe in den Zeiten des Bürgerkriegs

Endlich beieinander: Jörg Ammann als Juri und Lisa Habermann als Lara.

Endlich beieinander: Jörg Ammann als Juri und Lisa Habermann als Lara.

Leipzig. Kurz vor dem Finale klirren im Graben die Ketten. Auf der Bühne wehen rote Fahnen, die Revolution hat gesiegt – und die 1943 in New York geborene Komponistin Lucy Simon, deren Musical „Doktor Schiwago“ am Samstagabend in der Musikalischen Komödie triumphale deutsche Erstaufführung erlebte, zeigt, wo das hinführt: In ein Totenhaus. Dieser Janácek-Oper hat sie die Ketten entnommen und damit noch betont, dass sie für „Doktor Schiwago“ am ganz großen Opernrad dreht.

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Tatsächlich erhebt sich ihre Partitur weit über die Stangenware. Sie ist sinfonisch durchgeführt bis durchkomponiert, mit komplexen Ensembles, kunstvollen Chor-Tableaus, subtilen Melodramen, überdies exzellent instrumentiert und darum beim MuKo-Orchester unter der Leitung Christoph-Johannes Eichhorns trotz dieser oder jener Unschärfe im Zusammenspiel in guten Händen. Und doch bleibt ein etwas schales Gefühl zurück. Denn die Substanz, aus der Simon diese musiktheatralische Schlachteplatte anrichtet, ist bei Lichte besehen recht dünn.

Die beste Melodie des Abends ist nicht von ihr, sondern das unsterbliche „Lara’s Theme“ aus Maurice Jarres Musik zu David Leans Leinwand-Opus von 1965. Die zweitbeste ist das Liebesthema Jurijs und Laras. Wir begegnen ihr zum ersten Male im ersten Akt, wenn die beiden sich den Abschiedsbrief des 15-jährig gefallenen Janko vorlesen und ihre eigenen Gefühle entdecken. Es ist aus der zweiten Periodenhälfte von Jarres Lara-Thema abgeleitet, beherrscht weite Teile des zweiten Aktes, ist mit weiten Intervallen und absteigender Sequenzierung gleichermaßen an Strauss wie Puccini orientiert und sorgt dafür, dass viele der beseelten Premierengäste am Ende doch noch etwas summend, pfeifend, singend mit heimnehmen, das teilweise von Simon ist. Der Rest geht so schnell ins Ohr, wie er wieder hinaus ist – trotz fortwährender Modulation, Durchführung, Wiederholung.

Auf der Klaviatur der großen Gefühle

Dennoch – oder gerade deswegen – ist „Doktor Schiwago“ großes Musical-Kino. Weil diese Partitur virtuos die Klaviatur der großen Gefühle bedient. Apart harmonisiert, gekonnt rhythmisiert, mit perfektem Timing, betörenden Klangwirkungen, klug eingesetztem Lokalkolorit, das auf die Balalaika ebenso wenig verzichtet wie auf den Bajan, bleibt sie zwar dienendes Element, aber das tut diesem Theater mit Musik wenig Abbruch.

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Cusch Jung setzt in seiner von Gräbern gerahmten Inszenierung nicht auf Genre-Klischees, sondern macht Theater aus dem Pasternak-Destillat Michael Wellers. Nein – eigentlich macht er eher einen Film daraus. Atemlos schneidet er in den eindrucksvollen Bühnenbildern und historisch korrekten Kostümen Karin Fritz’ die Szenen an-, oder blendet sie geschmeidig ineinander. Schon am Beginn, als die erwachsenen Protagonisten hinter den Kindern stehen und aus der Vorgeschichte in die Handlung treten, gelingt ihm das Kunststück, einem Roman, der mehr noch als Film die Welt erobert hat, auf der Bühne eine plausible Erzählstruktur zu geben, die 700 Seiten auf drei Stunden verknappt.

Was vor allem an seiner Personenführung liegt. Ob die Gäste, der grandiose Jan Ammann in der Titelrolle, die bezaubernde Lisa Habermann als Lara, die wunderbare Hanna Mall als Tonia, der großartige Björn Christian Kuhn als Pascha oder die Ensemble-Mitglieder, Patrick Rohbeck als Komarovski, Michael Raschle als Gromenko, Sabine Töpfer als seine Frau, Mirko Milev als Diener und Offizier, ob die Ensembles von Chor und Ballet (Choreographie: Mirko Mahr) der Musikalischen Komödie – alle spielen sie Theater auf einem Niveau, das dem Genre allzu oft verschlossen bleibt.

Schlackenlos mädchenhaft

Die gesangliche Seite dieser Medaille strahlt nicht weniger hell. Amman ist von Hause aus Tenor und adelt die baritonal geführte Partie des Jurij Schiwago mit hellem Schmelz und der Fähigkeit, Worte in Tonfolgen zu gießen, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, die Liebe, das Leid, die Zweifel, Hoffnung, Schmerz und Glück den Umstehenden vorzusingen. Bei Lisa Habermann ist es nicht anders. Schlackenlos mädchenhaft klingt ihr Sopran, der nie ins Opern verfällt, natürlich, beseelt und charismatisch. Die beiden folgen auch singend so selbstverständlich den großen Spuren, die Omar Sharif und Julie Christie im russischen Schnee hinterlassen haben, dass dieses Musical Pasternaks Nobelpreis-Roman zumindest emotional so wenig schuldig bleibt wie die diesbezüglich nicht eben zimperliche kanonische Film-Adaption.

Die anderen Partien halten das Niveau: Die edle Wahrhaftigkeit Hanna Malls in der Rolle der verzichtenden Gattin, die immer auch menschliche Durchtriebenheit des erneut phänomenalen Patrick Rohbeck, Milko Milevs sonore Verlässlichkeit, Michael Raschles trauernde Grandezza, Sabine Töpfers verstörte Entrücktheit, die gleichsam naturalistisch bewegenden Töne der Kindersolisten Adele Bauer (Lara als Kind), Lara Friedrich (Tonia als Kind sowie Schiwagos und Laras Tochter Katharina) und Paul Weber (Jurij als Kind), sie alle machen diesen langen Abend zu einem großen. Ja – er kommt trotz der vielen Töne weitgehend ohne Musik aus. Aber das sagte schließlich auch Ravel über sein mit Abstand populärstes Werk, den Bolero. Kurzum: Dieser farbsatte und gefühlspralle Bilderbogen der Liebe in den Zeiten de Bürgerkriegs sorgt dafür, dass selbst die, die dem Genre skeptisch gegenüberstehen hin und wieder Gebrauch machen von den Tempo-Taschentüchern, die das Haus Dreilinden mit der roten Banderole „Zum Heulen schön“ umwickelt auf den Plätzen ausgelegt hat.

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Der Jubel ist gewaltig. Er wird weiträumig im Stehen vorgetragen, schließt alle Beteiligten ein, fällt besonders exaltiert aus für Amman, Habermann, Jung und Eichhorn mit dem MuKo-Orchester. Und er sollte Anreiz sein, sich um eine der schon ziemlich knappen Karten zu bemühen.

Vorstellungen: Morgen, 6., 8. (Restkarten), 9. Februar, 10., 11. März, 19., 20. Mai, 26., 27. Juni. Für manche Vorstellungen gibt’s Restkarten (15–39 Euro) in den LVZ-Geschäftsstellen, über die gebührenfreie Tickethotline 0800 2181050 und auf www.lvz-ticket.de, unter Telefon 0341 1261261 oder an der Opernkasse.

Von Peter Korfmacher

LVZ

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