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He too oder Der Fall Alviano
Von Joachim Lange / Fotos von Iko Freese - drama-berlin.de
So ist das an der Komischen Oper - wenn ihr Chef Barrie Kosky nicht selbst seine Fangemeinde mit einer ausgegrabenen Operette, oder wie jüngst mit Anatevka, beglückt, sondern in London Carmen vorbereitet, um danach (in) seiner Heimat Australien Die Nase zu richten, dann überlässt er das Haus eben einem Regieschwergewicht wie Calixto Bieito. Und der bringt ein Blockbuster-Schmankerl wie Franz Schrekers Die Gezeichneten auf die Bühne. Wobei der Skandalbonus, den Bieito einst (auch an der Komischen Oper) hatte, als er die Überbleibsel des realistischen Musiktheaters mit dem Bilder- und Schockvorrat einer hysterischen Nachrichtengesellschaft aufmöbelte, längst vorbei sind. Es geht auch ohne Blut und diverse Körperflüssigkeiten. Wenn man Personenregie beherrscht wie der Katalane, dann geht es sogar besser. Da ist zunehmend mehr Kunst als platte Aufregung drin.
Und doch ist man diesmal baff, weil die erste Hälfte des Abends als (höchstens) dreiviertelszenisch durchgehen könnte. Die Sänger an der Rampe in dem schmalen, weiß ausgeschlagenen abstrakten Raum von Rebecca Ringst wissen natürlich, was sie singen. Und die unvermeidlichen Videos machen es jedem klar. Mit dem Riesenrad kriegt man den Prater und eine ferne Assoziation eines fernen Wiens spielend auf die Bühne. Wenn man sich denn des historischen Nährbodens erinnern will, aus dem das am Ende des Ersten Weltkrieges uraufgeführte, zu einem selbstgedichteten Libretto komponierte Werk stammt. Mit den Gezeichneten wurde der Konkurrent von Richard Strauss bis zu seiner Verbannung aus dem deutschen Musikleben durch die Nazis höchst populär. Bieitos Ästhetik bleibt jedenfalls bis zur Pause im Griff dieser laborsterilen Kühle; das Ganze wird so mehr zur Diagnose Einzelner als zu der einer dekadenten Gesellschaft. Es gibt Video-Projektionen der Gesichter von missbrauchten Kindern und vergewaltigender Männer in Großaufnahme; niedliche Mädchen und kurzbehoste leibhaftige Knaben. Der reiche Schöpfer jenes geheimnisumwobenen Elysiums vor den Toren Genuas, in dem die Töchter der Stadt spurlos verschwinden, ist hier nicht körperlich, sondern durch seine pädophile Neigung gezeichnet. Beim Objekt seiner Begierde beschränkt sich Alviano Salvago aber auf eine Puppe, die dem Jungen ähnelt.
Das fokussiert die Geschichte zwar auf einen Kern, nimmt ihr aber auch einiges vom Reiz des schwebend Irritierenden. Immerhin bleibt Bieito in dieser szenischen Reduktion konsequent bis zur Überdeutlichkeit. "Elysium" ist ein Neonschriftzug über der geöffneten und seiner weißen Verkleidung beraubten Insel der Ausschweifung. Mit unzähligen aus dem Schnürboden hängenden Kuscheltieren und einer Spielzeugeisenbahn, in der auch Erwachsene mitfahren können und die Kindern dann irgendwann die toten Fahrgäste sind. Michael Jacksons Neverland lässt grüßen.
Was die so auf sich selbst zurückgeworfenen Protagonisten allerdings an emotional aufgeladener Intensität bieten, ist so atemberaubend wie die Klangopulenz, die Stefan Soltesz mit all' seiner Strauss- und auch Schreker-Kompetenz das Orchester der Komischen Oper in einen Rauschzustand verführt, wie man ihn in diesem Haus auch noch nicht erlebt hat. Wie diese Musik in ihrer Melange aus Fine-de-Siècle und Moderne hier klingt, irritiert, aufblüht, anspielt, zu sich findet, und wie sie sich mit den wunderbaren Stimmen mischt, das ist (Bieito hin, Bieito her) das eigentliche Ereignis an diesem Abend!
Wie auch die Protagonisten. Angefangen mit dem kraftvoll virilen Michael Nagy als rabiatem Tamare. Dem Motto folgend "Schönheit sei die Beute des Starken", lässt sich die in ihrer Körperlichkeit wie vokal lodernde Ausrine Stundyte als Carlotta von ihm verführen. Sie erwürgt ihn (hier) dann aber auch. Peter Hoare ist der im Dauerkampf mit seiner Veranlagung ringende, eindrucksvolle Alviano. Auch alle übrigen der verbliebenen Partien sind überzeugend besetzt. Der Chor der Komischen Oper lässt sein Gestaltungspotenzial in den verbliebenen Zweidreiviertelstunden Bruttospielzeit zumindest ahnen. Seit ihrer Wiederentdeckung durch Hans Neuenfels und Michael Gielen 1979 in Frankfurt sind Die Gezeichneten wieder in Reichweite der Opernhäuser. Kusej in Stuttgart, Lehnhoff in Salzburg und zuletzt Warlikowski im München haben danach gegriffen. Vor allem Soltesz hat jetzt erneut bewiesen, warum sich das lohnt.
Die Gezeichneten sind an der Komischen Oper musikalisch fulminant geraten. Calixto Bieito setzte seine fokussierende Sicht auf das Stück konsequent um, erfüllte aber nicht alle Erwartungen. Mit einem Wort: Calixto Bieito dampft Die Gezeichneten ein und Stefan Soltesz entfesselt sie. Ihre Meinung Schreiben Sie uns einen Leserbrief (Veröffentlichung vorbehalten) |
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Bühne
Kostüme
Video
Licht
Chor
Dramaturgie
Solisten
Herzog Antoniotto Adorno
Graf Adrae Vitelozzo Tamare
Lodovico Nardi, Podestá der Stadt Genua
Carlotta Nardi, seine Tochter
Alviano Salvago, ein genuesischer Edelmann
Guidbald Usodimare
Menaldo Negroni
Michelotto Cibo
Gonsalvo Fieschi
Julian Pinelli
Paolo Calvi
Il Captinaeo di giustizia
Givervra Scotti
Martuccia, Haushälterin bei Salvago
Pietro
Ein Mädchen
Ein Jüngling
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