Gründlich den Kopf verdreht

Tragödie trifft Kindergeburtstag: Szene aus Achim Freyers Inszenierung von „Jephtha“ in Wiesbaden.Foto: Monika & Karl Forster  Foto: Monika & Karl Forster
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Am Ende sinken weiße Vorhänge herab und verhüllen wie Leichentücher die Bühne. Gastdirigent Konrad Junghänel lässt auch den Streicherklang des Staatsorchesters langsam...

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WIESBADEN. Am Ende sinken weiße Vorhänge herab und verhüllen wie Leichentücher die Bühne. Gastdirigent Konrad Junghänel lässt auch den Streicherklang des Staatsorchesters langsam absterben. Nur noch ein unvibrierter, fast tonloser Trauerflor dringt aus dem Graben, während der Priesterchor Jehova bittet, seinen Willen kund zu tun. Aber Gott ist abwesend oder sogar tot. Er schickt auch keinen Engel, der eigentlich in Georg Friedrich Händels Oratorium „Jephtha“ als zeittypischer „Deus ex machina“ für ein Happy End sorgen sollte und den Knoten dieser verfahrenen Geschichte aus dem Alten Testament löst: Feldherr Jephtha hatte gelobt, im Fall eines Sieges im Befreiungskrieg das erste Wesen zu opfern, das ihm begegnet. Fatalerweise ist es seine Tochter Iphis, die das Eheglück mit Hamor erwartet. Das originale Engel-Ende mit finalem Halleluja sieht nun einen faulen Kompromiss vor: Das Menschenopfer bleibt aus, aber Iphis muss die Liebe opfern und bis ans Ende ihrer Tage als jungfräuliche Priesterin dienen. Sterbenslangweilig.

Tragödie trifft Kindergeburtstag: Szene aus Achim Freyers Inszenierung von „Jephtha“ in Wiesbaden.Foto: Monika & Karl Forster  Foto: Monika & Karl Forster

Dass der Regisseur Achim Freyer und der Alte-Musik-Spezialist Konrad Junghänel in ihrer Strichfassung auf die Happy-End-Konvention verzichten und damit die dramatische Wucht unterstreichen, ist musikalisch kein großer Verlust. Das Spannendste findet vorher statt. Etwa im packenden, düsteren Chorsatz „How dark, O Lord, are Thy decrees“: Der von Albert Horne einstudierte Chor zeigt sich in Hochform, begleitet von Oboen-Klage und einem schwer am Schicksal schleppenden Streicher-Rhythmus.

Skurrile Magie einer originellen Bilderwelt

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Das Staatstheater profitiert in dieser expressiven, scharf konturierten Gestaltung wieder enorm von den Qualitäten des Gastdirigenten, der reiche Jephtha-Erfahrung mitbringt und das Werk in allen möglichen Varianten dirigiert hat. In Mainz zum Beispiel hat er das Oratorium 2016 mit dem Gutenberg-Kammerchor und Solisten von Barock vokal in St. Stephan aufgeführt, in Potsdam 2013 eine von Lydia Steier inszenierte Version dirigiert. Die Bilderwelt des Freyer-Theaters, das in der Geometrie seiner maskierten Figuren immer wieder an Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett“ erinnert, ist freilich mit keiner anderen szenischen Interpretation zu vergleichen. Ihre skurrile Magie, zu der wieder schwebende Leuchtstäbe und Lichterketten gehören, kann sich in der oratorischen Verlautbarungs-Statik besonders gut entfalten: Die Figuren stehen auf ihren Privat-Sockeln und folgen dort einer Choreografie, die sie dreht und wendet, ihre Arme in Klage-Gesten einfriert oder auch rotieren lässt.

Freyer hat das Bühnenbild eigenhändig mit schwarzen Chiffren ausgemalt: eine Art Action-Painting, das die Szene wie asiatische Tuschmalerei dynamisiert und von höchst suggestiver Lichtführung (Andreas Frank) illuminiert wird. Das Mythische, das Archetypische der Figuren betont eine Gewandung, auf der blutrote Farbe auf Krieg und Opfer verweist.

Die Figuren bleiben aber nicht nur statische Bild- und Bedeutungsträger, sondern vermenschlichen sich im Leid und in ihren anrührend-ariosen Aufgaben. Als bewegender Jephtha windet sich der Tenor Mirko Roschkowski, kaum hat er mit dem Victory-Zeichen triumphiert und sich eine Krone auf den Januskopf gemalt, in Vater-Qualen auf dem Boden. Der mütterlichen Entrüstung, die Jephthas Frau Storge vom Podest steigen lässt, gibt Anna Alàs i Jové expressives Format, während Wolf Matthias Friedrich als kraftvoller Bruder Zebul begeistert, Gloria Rehm ihre Stimme mit wachsender Intensität der Iphis leiht und der Countertenor Terry Wey als beweglicher Hamor aufhorchen lässt.

Damit beide Seiten der Janusköpfe zu ihrem Recht kommen, müssen sich die Sänger im Schlussapplaus immer wieder umdrehen. Sie haben aber offenbar auch dem Premierenpublikum gründlich den Kopf verdreht: es applaudiert so anhaltend enthusiastisch wie selten. Das macht den fast 84 Jahre alten bzw. jungen Achim Freyer offenbar so glücklich, dass er in kindlicher Freude über diesen wunderbar gelungenen Abend über die Bühne hüpft. Man traut ihm genug Energie zu, um bis 2020 in Südkorea noch einmal Wagners „Ring“ zu schmieden.