Wenn alle Sterne fallen

Marina Abramovic und Sidi Larbi Cherkaoui inszenieren erstmals gemeinsam: Debussys «Pelléas et Mélisande» wird an der Flämischen Oper zum triumphalen Gesamtkunstwerk.

Eleonore Büning, Antwerpen
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Weltenwanderer der Liebe: Pelléas (Jacques Imbrailo) und Mélisande (Mari Eriksmoen) mit Tänzern des Flämischen Balletts. (Bild: Opera Vlaanderen)

Weltenwanderer der Liebe: Pelléas (Jacques Imbrailo) und Mélisande (Mari Eriksmoen) mit Tänzern des Flämischen Balletts. (Bild: Opera Vlaanderen)

Ob es wohl noch Meerjungfrauen gibt, jenseits von Disneyland? Und ob man die und deren viele Schwestern aus Wald und Flur als mehr oder weniger liebenswürdige Naturkinder ansehen darf? Oder ob man sie doch eher als Geschöpfe begreifen muss, die aus der Tiefe des hormongesteuerten, männlichen Unterbewusstseins aufsteigen? Das sind keine längst erledigten Fragen aus dem fernen 19. Jahrhundert, als es noch kein Frauenwahlrecht gab. Erlkönigs Töchter haben uns eingeholt, wieder einmal, der MeToo-Debatte sei Dank.

Auch die schöne Mélisande, von 1893. Auch sie. In dem viel verkomponierten Schauspiel von Maurice Maeterlinck sitzt sie allein am Rand einer Quelle, mitten im Wald, um dort von Prinz Golaud gefunden sowie anschliessend gerettet, geheiratet, geschwängert, geschlagen und vernichtet zu werden. Ihr Liebreiz macht alle Männer nervös. Sie wird wiederholt zum Opfer sexistischer Angriffe, und je nachdem ob ihr dabei Gewalt angetan wird oder nicht, spricht sie – als sei dies pures Schicksal – von Glück oder Unglück. Claude Debussy hat diese Ambivalenz in der zweiten Szene des fünften Akts seiner Oper «Pelléas et Mélisande», in der sich endlich auch noch der bereits halb erblindete Grossvater, König Arkel, an Mélisande herangrapscht, sehr genau und brutal in Töne gefasst. Sie schweigt, er redet. Er langt zu. Sie weicht aus.

Phallussymbole

In der futuristisch-phantastisch von Marina Abramovic ausgestatteten, von Sidi Larbi Cherkaoui und Damien Jalet üppig durchchoreografierten Neuinszenierung des Werkes, die jetzt an der Flämischen Oper in Antwerpen und Gent zu sehen ist, stehen die beiden plötzlich allein an der Rampe. Mélisande, die zuvor barfuss lief, trägt jetzt kothurnartige Highheels, auf Augenhöhe mit dem Mann.

Auch sind die sieben fast nackten, herrlich muskulösen Tänzer der Hauskompanie, die bis dahin die (ebenfalls sieben) Sänger fast lückenlos begleitet hatten, in der Kulisse verschwunden. Vier Minuten dauert der Monolog Arkels. In den anschwellenden Redefluss ergiessen sich immer gewaltigere Tuttistreicherströme, plötzlich wird man gewahr, dass die mächtigen Salzkristalle, die Abramovic in diesem seltsam rundlich-raumschiffartigen Schloss Allemonde von der Decke wachsen lässt, nichts weiter sind als Phallussymbole.

Kurze Atempause fürs Orchester. Dann erzwingt Arkel einen Kuss, was nur mehr moderat von Einzelinstrumenten kommentiert wird. Und Mélisande wehrt sich «tres doux», mit Notlüge und zartem Quartsprung. Erst die Flöte, die sie auch sonst hilfreich begleitet, liefert das Klagemotiv auf der letzten Silbe des Satzes nach: «Grand-père, je n’étais pas malheureuse.»

Einem alten Buch entstiegen

Debussys hohe Kunst, Zwischentöne zu erfinden, aus fliessenden Farben, atmenden Klängen und sich wandelnden Leitmotiven, unterscheidet sich grundsätzlich von der Orchestersprache Wagners, aber auch von der «verità» Verdis. Normalerweise, so sagte es der Theatermacher Peter Brook, als er den «Pelléas» erstmals in eine grossbürgerliche Familienaufstellung übertrug – mit Perserteppich, Goldfischglas und Ottomane –, müsse es bei der Vertonung von Texten ja eher um eine Vereinfachung des Gesagten gehen. Debussy hingegen mache es umgekehrt: «Er verleiht den symbolistischen Figuren von Maeterlinck eine versteckte psychologische Komplexität. Er hat Proust durch die Hintertür eingeführt.»

Gefangen im Netz der Eifersucht: Pelléas (Jacques Imbrailo) und Mélisande (Mari Eriksmoen) mit Tänzern des Flämischen Balletts. (Bild: Opera Vlaanderen)

Gefangen im Netz der Eifersucht: Pelléas (Jacques Imbrailo) und Mélisande (Mari Eriksmoen) mit Tänzern des Flämischen Balletts. (Bild: Opera Vlaanderen)

Seit Brook gibt es eine starke Aufführungstradition, die sich müht, die Symbolismen des Stücks in eine kommensurable Wirklichkeit zu übersetzen, die Zeichen zu enträtseln und gesellschaftskritisch im Hier und Heute zu verorten. Zuletzt verkörperte Barbara Hannigan so eine traurige Rinnsteinschwalben-Mélisande in Krzysztof Warlikowskis Ruhrtriennale-Inszenierung. Es ist erfrischend, aber auch schockierend und bestürzend, jetzt in Antwerpen wieder einer Mélisande zu begegnen, die einem alten Buch entstiegen scheint.

In ihrem wie aus Transparentpapier geschnittenen Gewand aus Lichtwellen (Kostüme: Iris van Herpen), mit der stolzen, sparsamen Gestensprache einer Fee verkörpert die norwegische Sängerin Mari Eriksmoen diese Rolle zum ersten Mal und belebt und erwärmt sie zugleich mit ihrem quellklaren Sopran. Natürlich hat sie lange, blonde Locken, wie es das Libretto vorschreibt, damit sich ihr guter Freund Pelléas, Halbbruder von Golaud, darin verwickeln und in Träumen verlieren kann, wenn sie wie Rapunzel hoch auf dem Turm ihr Loreley-Lied singt.

Cherkaouis famose, katzenhaft-kraftvolle Tänzer helfen mit, die Haare zu Schnüren zu verlängern. Die Schnüre reichen über die ganze Bühne, kreuzen sich und formen ein Pentagramm oder ein Spinnennetz, eine Lichtersternenstrasse im All oder ein Gewirk, das mit einem Mal Notenlinien ähnelt, dreifach gerastert, nein vierfach, wie in den mittelalterlichen Anfängen der Notation, dergestalt, dass sich die Liegetöne der Liebenden daran entlanghangeln.

Hyperrealistische Lesart

Diese beiden sind so glückselig kindlich junge, so tänzerisch bewegte Liebende, wie aus einem La-La-Land, kaum auszuhalten. Alle Sterne fallen über sie, in der zweiten, finalen, tödlichen Zusammenkunft. Der enorm ausdrucksstarke, jugendlich hoch timbrierte, höhensichere Bariton Jacques Imbrailo als Pelléas ist, wie Mélisande, eine ideale Besetzung für diese hyperrealistische Lesart. Wie er, nachdem ihn sein Bruder, wie Kain den Abel, blindwütig erschlug, rücklings über den Brunnenrand fällt, das hat schon Stummfilmpathos-Qualität. Auch Leigh Melrose, der Golaud vom Dienst, agiert beeindruckend beweglich, singt sonor, Anat Edri ist ein hinreissend emphatischer Yniold. Den höchsten Anteil am Gelingen aber hat gewiss Alejo Pérez, der das Symfonisch Orkest der Vlaamse Opera mit scharfem Blick fürs Detail und zugleich Sinn für den grossen Bogen führt.

Abramovic und Cherkaoui und ihr Team (Videos: Marco Brambilla) haben sich tief eingelassen auf die Kraft von Maeterlincks Zeichen und Debussys Farben. Sie bebildern und übersetzen nichts. Sie fügen nur ein paar Symbole, Bilder und Zeichen hinzu. Zitieren Archetypen, assoziieren Traumsequenzen. Die Nornen lassen grüssen; Atlas, Skywalker, Laokoon, Absalon ziehen vorbei. Manchmal streifen die lebenden Bilder der Tänzer die Grenze zu lieblichem Kitsch. Aber immer wieder kommt es zu schockartigen Korrespondenzen, Szenen, in denen Klang, Bild, Bewegung und Wort sich zu einem neuartigen Gesamtkunstwerk fügen. Das muss man erlebt haben.

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