Dreh- und Angelpunkt der Fassung ist die Fokusverschiebung von der verbotenen Liebe Melisandes zu Pelleas auf das Dreiecksverhältnis einer Frau, die zwischen ihrem Gatten Golaud und dem Geliebten schwankt. Jonigk stutzt dafür die Seitenfiguren der Erzählung und schält den Kern des nunmehr zwei Stunden dauernden Werks heraus. Hierfür stellt er dem Geschehen einen kurzen Prolog voran, der das Libretto letztlich als Erinnerung Melisandes ausweist, die über ihre verflossene Liebe sinniert. Dieser Rahmen ist als Bezugspunkt unerlässlich für das weitere Verständnis, werden die meisten Ausdeutungen im Folgenden nicht stringent durchgezogen.

In einem schwarzen Nichtraum, an einem in die Ungreifbarkeit entrückten Küchentisch, lässt der Theatermann Jonigk bei seinem Debüt als Opernregisseur die mythische Rätselgeschichte spielen. Die Protagonisten interagieren darin meist nicht miteinander, sondern wandeln wie Autisten durch Tableau vivants. Viele Aktionen werden wie im antiken Botenbericht lediglich erzählt, die Figuren abseits der Liebenden zur Staffage.

Immer wieder wird dieser Ansatz der Vereinzelung allerdings auch durchbrochen, wenden sich die Charaktere dann doch einander zu, überschreiten enigmatisch die scheinbaren Rahmenbedingungen. Diese Inkohärenz wird einzig dadurch schlüssig, dass es um die letztlich subjektive Erinnerung einer Figur geht, die das Geschehen aus ihrem emotionalen Gedächtnis heraus betrachtet.

Weniger ambivalent zwischen den Polen der "Pelleas"-Deutung changiert die Musik, die bei Debussy stets etwas abseits der Handlung steht. Für die Kammeroper haben Jonigk und Dirigent Thomas Guggeis - als Mittzwanziger und Assistent von Daniel Barenboim in Berlin einer der Shootingstars der Szene - auf die Kammerfassung der Belgierin Annelies van Parys zurückgegriffen. Ihr gelingt es, Debussys impressionistisches Klangamalgam in eine kammermusikalisch transparente Partitur zu transformieren, die den einzelnen Instrumenten solistisch mehr Raum lässt und doch mittels Klangelementen wie einem Harmonium ein verbindendes Gewebe wirkt.

Vor allem aber lässt diese Instrumentierung dem Ensemble eine größere Gestaltungsfreiheit, welche die Sänger vollkommen ausschöpfen. Anna Gillingham, mit der laufenden Saison frisch im Jungen Ensemble (JE) des Theaters an der Wien, präsentiert auch als Melisande ihren warm unterfütterten, bereits jetzt dunkel schimmernden Sopran, während Bariton Matteo Loi als ihr reifer Gatte Golaud seine bis dato vielleicht beste Leistung am JE abliefert und über weite Strecken im sanften Fluss der Stimme bleibt. Julian Henao Gonzalez ist als Pelleas ein überraschend nüchterner, fokussierter Tenor, während der junge Florian Köfler als alter Arkel wieder einmal eine Zukunft als großer Bass erahnen lässt.

Alles in allem gelingt den Beteiligten so ein musikalisch sehr stringenter Abend, der auch interpretatorisch neue Blickwinkel auf ein enigmatisches Werk ermöglicht. Auch wenn die Perspektive mehr der eines Kaleidoskops gleicht denn einem fokussierten Mikroskop.