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Uraufführung Das Glück ist ein sehr weicher Keks

So platt wie prätentiös: „Wahlverwandschaften“ wird als spartenübergreifendes Musiktheater mit Sängern und Schauspielern am Theater Bremen uraufgeführt.
25.02.2018, 21:27 Uhr
Lesedauer: 4 Min
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Das Glück ist ein sehr weicher Keks
Von Iris Hetscher

Eine Zeltkonstruktion aus weißen Planen und schwarzen Stangen, Tische, Stühle, ein Herd, ein Kühlschrank. Vorne sitzen die Bremer Philharmoniker im offen einsehbaren Orchestergraben, die Musiker tragen Alltagskleidung, nur Dirigent Clemens Heil hat sich schick gemacht. Im Hintergrund flimmern Videobilder von den Schauspielern und Sängern im Wasser, unter Wasser, schwimmend.

Weil: Man paddelt ja so vor sich hin im Leben, von einem zur anderen, Verlässlichkeit und Tiefe gibt es nicht mehr. Der Mensch ist durch den Neoliberalismus zum Würstchen degeneriert. Hach. Bühne frei also für „Wahlverwandtschaften“, spartenübergreifendes „Musiktheater“ mit Sängern und Schauspielern.

Die Komponisten Thomas Kürstner und Sebastian Vogel haben bei ihrem Projekt den bestimmten Artikel, den Johann Wolfgang von Goethe seinem Romantitel mitgegeben hat, weglassen. Denn, wie gesagt, bestimmt ist ja heute nichts mehr, alles ist volatil. Und um Goethes Vorlage geht es bei dieser Uraufführung, die am Sonnabend am Theater Bremen gegeben wurde, sowieso eher wenig.

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Armin Petras, Schauspielchef in Stuttgart und Autor der Textversion in 17 Szenen, hat sich nur an der Struktur, dem Personal und den Motiven orientiert, und die Vorlage „überschrieben“, wie es bedeutungsschwer im Programmheft heißt. Inszeniert hat Stephan Kimmig in seiner ersten Arbeit für das Theater Bremen, die Bühne verantwortet Katja Haß.

Und so ist aus dem Aristokratenpaar Edouard und Charlotte ein gelangweiltes Duo geworden (obere Mittelklasse, Bildungsbürgertum), das auf einem Anwesen vor sich hinlebt. Edouard (Patrick Zielke) war mal irgendwie Reisejournalist, sogar in Bürgerkriegsgebieten, Charlotte (Nadine Lehner) mal irgendwie Musikerin, jetzt soll das Leben für beide noch mal neu beginnen.

Doch diese Hoffnung ist schon wieder perdu. „Sie ist sehr gut, aber nicht Wahnsinn“, singt Edouard über seine Frau, die Yoga praktiziert, sich um den Garten kümmert und überlegt, „sich die Brüste machen zu lassen oder vielleicht den Hintern“. Ihre „Ex-Stieftochter“ rasselt derweil auf ihrem Schweizer Internat durchs Abitur.

Geruch des Abgeschmackten

Es tauchen auf: Edouards verquasselter Bruder Otto (Robin Sondermann), ein gescheiterter Architekt, und die junge Tilly (Hanna Plaß als hyperaktives Girlie), mit denen sich dann die aus dem Roman bekannten amourösen Verwicklungen ergeben, die ja nicht gut enden. Bei den Verwicklungen spielen noch Wolfgang (Markus John) und Christina (Annemaaike Bakker) mit, die aber vor allem die Welt an sich gerne besser sehen würden und das in anstrengenden Monologen auch kundtun.

Das ist ein Setting, an dem sich deutsche TV-Beziehungsdramen seit ungefähr dreißig Jahren abarbeiten: die Unbehaustheit in der Moderne, auch der Post- und der Post-Postmoderne, die Sehnsucht nach einem Gegenüber, der Schmerz, weil das nicht klappt und der Mensch vor allem funktionieren muss. Der Geruch des Abgeschmackten umweht diese Konstellation seit Langem, und Petras fällt dazu nichts Neues ein: Er füllt Schablonen in einem Klischeemalbuch mit grellen Farbklecksen.

Selbstverständlich wird das alles doppelt und dreifach ironisch gebrochen und auf Spitzen getrieben, der Text vibriert nur so vor Anspielungen auf alle möglichen Themen, von Umwelt- bis Kommunikationszerstörung – dann wird Englisch gesungen, die Sprache formelhafter Popmusik. Das kommt in seiner collagehaften Massierung so platt wie prätentiös daher und verliert sich in genau der Geschwätzigkeit, die es entlarven will.

Nie ein Miteinander

Stephan Kimmig lässt diesen Textwust sehr körperbetont spielen, manchmal mit Anleihen beim Tanztheater. Dabei gibt es nie ein Miteinander, sondern immer ein Neben- oder sogar Gegeneinander, das regelmäßig zum nervösen Spektakel auf der ganzen Bühne gesteigert wird.

Dann müssen die Akteure sich manisch an- und ausziehen, in der Stangenkonstruktion herumklettern, Zirkusszenen nachstellen, weil der Mensch heute ja nur noch eine Nummer abspult – allez hopp! Auf den Videobildern im Hintergrund wird derweil auch mal eine Avocado zermanscht (Video: Rebecca Riedel). Das Ensemble reibt sich die ganzen zwei Stunden mit bewundernswertem Engagement auf, unfassbar langweilig ist das Ganze trotzdem.

Was vielleicht auch daran liegt, dass die Musiker zwar quasi im Bühnenbild sitzen, die Musik, die Kürstner und Vogel dazu erdacht haben, aber wegen des Getümmels auf der Bühne unterzugehen droht. Das ist schade, denn sie illustriert die Stimmungen in den 17 Szenen unterschiedlich farbig und mit feiner Binnenspannung.

Es fehlt an Qualität

Zu hören sind dissonante Kommentare, Ausflüge in die Romantik, überhaupt Fetzen aus vielen Epochen und Genres: Auch Kurt Weill schaut vorbei. Außer Arien vom Opern-Fachpersonal Lehner und Zielke gibt es diverse Songs, mit denen Hanna Plaß und Annemaaike Bakker auftrumpfen können. Glanzpunkte setzen auch die Philharmoniker, die in derart kleiner Besetzung spielen, dass man sie im Programmheft durchaus einzeln hätte aufführen können. Verdient gehabt hätten sie es.

Das experimentierfreudige Theater Bremen hat schon oft bewiesen, wie an- und aufregend spartenübergreifende Produktionen sein können; zuletzt beispielsweise mit „Dantons Tod“ in der vergangenen Spielzeit. Und auch das Gespann Petras plus Kürstner/Vogel hat mit „Anna Karenina“ bereits eine zwar schwierige, aber stimmige und packende Arbeit vorgelegt.

Den „Wahlverwandtschaften“ fehlt es an dieser Qualität. An einer Stelle monologisiert Annemaaike Bakker über das Glück, und wie langweilig den Menschen dann schnell wird, wenn sie es gefunden haben. Der glücklichste Moment dieser Aufführung ist der, wenn das Licht im Zuschauerraum wieder angeht.

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