Es ist die Geschichte einer Emanzipation, die der Komponist Paul Dukas in seiner einzigen, 1907 uraufgeführten, Oper erzählt. Die Grundlage des Librettos bildet ein Theaterstück von Maurice Maeterlinck, das wiederum lose auf Charles Perrauts Blaubart-Märchen basiert. Die Handlung ist simpel: Die junge Ariane heiratet Blaubart, über den im Dorf Gerüchte kursieren, dass er seine vorigen Frauen ermordet habe. Ariane ist jedoch davon überzeugt, dass diese sich noch im Schloss befinden und am Leben sind. Tatsächlich findet sie in der – naturgemäß verbotenen – siebenten Kammer, die sie öffnet, Blaubarts verängstigte Frauen. Sie will diese zur Flucht in die Freiheit bewegen, allerdings fehlt den Frauen dazu der Mut fehlt und so verlässt Ariane alleine das Schloss. Soweit das zu Grunde liegende Märchen, denn die Regisseurin Nadja Loschky wählt für Ihre Inszenierung an der Oper Graz einen weitaus tiefer schürfenden und vor allem psychologischeren Zugang zur Geschichte.

Ariane begibt sich in Begleitung ihrer Amme auf eine Rückschau, eine Art des Nocheinmal-Erlebens, das der Traumabewältigung dienen soll. So wandeln die beiden Frauen im ersten Akt durch Arianes Hochzeit mit Blaubart, sehen das anfängliche Glück und dann auch die immer heftiger werdenden Demütigungen, denen Ariane ausgesetzt war. Die sechs Frauen, die Ariane im zweiten Akt in völliger Dunkelheit antrifft, erscheinen als abgespaltene Persönlichkeitsanteile ihrer selbst — man könnte bei Dukas’ Hauptfigur in dieser Inszenierung wohl eine dissoziative Identitätsstörung infolge starker traumatischer Erlebnisse diagnostizieren. So erscheint es am Ende auch nur logisch, dass es Ariane, beeinflusst von den Stimmen in ihrem Kopf, nicht gelingt, sich letztlich von Blaubart, ihrem personifizierten Trauma, zu lösen und das Schloss zu verlassen. Eine schiefe Ebene, die durch ein minimlistisches Bühnenbild, Nebel und ausgefeilte Lichtregie visuell ungemein effektvoll ist, bildet das albtraumhafte Setting für diese Reise in die Abgründe der Psyche. Gut möglich jedoch, dass man das Gesehene auch völlig anders interpretieren kann, ist die Inszenierung doch ein bisschen wie ein Rorschachtest. Sie bietet viel Raum für individuelle Sichtweisen, regt zum Denken an und lässt einen auch nach dem Fallen des Schlussvorhangs nicht los.

Gleiches lässt sich über die Musik von Paul Dukas sagen, die in ihrem opulenten Stil die Einflüsse Wagners zwar nicht verleugnen kann, aber dennoch ihre ganz eigene Sprache findet. Von ihr geht ein starker hypnotischer Sog aus. Dukas legt den Fokus stark auf das Orchester, wodurch die Oper weniger Musiktheater als vielmehr sinfonische Dichtung zu sein scheint. Unter der Leitung von Roland Kluttig, der für die während der Proben erkrankte Oksana Lyniv eingesprungen war, glitzerte und glänzte der üppig gehaltene Orchesterpart in reichen Farben und vielschichtigen Facetten. Präzise und feinsinnig interpretierte das Grazer Philharmonische Orchester all die bedrohlichen Abgründe, die liebliche Sanftheit und das euphorisches Freiheitsbedürfnis der Partitur und spielte so – neben der großartigen Ariane von Manuela Uhl – eine große Hauptrolle des Abends.

Die deutsche Sopranistin schien mit schier unerschöpflichen Kraftreserven ausgestattet zu sein, war sie doch nicht nur in jeder Szene auf der Bühne, sondern musste mit der Partie der Ariane auch eine sängerische Mammutaufgabe leisten. Sie bewältigte diese nicht nur, sie machte sich die Rolle – und damit den Abend – zu eigen und überzeugte vom ersten bis zum letzten Ton. Mal durchschlagskräftig, mal zart führte sie ihre Stimme durch Blaubarts Schloss, wobei das silbrig distanzierte Timbre ihre intensive aber gleichzeitig abgeklärte darstellerische Interpretation der Ariane ideal ergänzte. So blieb man als Zuschauer und -hörer interessanterweise mit dieser Figur trotzdem emotional involviert, obwohl sie als echte, lebende Frau nicht greifbar wurde.

Eine imposant beherrschende Bühnenerscheinung war die Amme von Iris Vermillion, die Ariane mit ihrer dunkel timbrierten und ebenso großen wie satten Stimme in die Verwinkelungen der Seelenräume begleitete und mit ihrer nuancierten Gestaltung dem Charakter Tiefe verlieh. Wenig zu singen, dafür umso mehr als bedrohliche Präsenz auf der Bühne zu stehen, hatte Wilfried Zelinka als Blaubart. Schade, dass der Komponist offensichtlich kein großer Freund von Männerstimmen war, denn Zelinkas sonor strömendem Bass hätte man durchaus gerne länger zugehört. Eine starke schauspielerische Leistung bei wenig Gesang lieferten auch sämtliche gefangene Frauen Blaubarts, die als abgespaltene Seelenanteile beklemmend verstört und gebrochen agierten. Dank hauseigener Luxusbesetzung aus dem Ensemble für die kleinen Rollen waren diese „Stimmen im Kopf“ überdies wunderbar anzuhören. Erwähnt sei hier Anna Brull, die mich als Sélysette am Premierenabend besonders begeisterte, da ihr Dukas’ Musik direkt auf die Stimmbänder geschneidert zu sein scheint.

Die Neubegegnung mit einem so selten gespielten Werk wurde am Premierenabend dank Paul Dukas’ atmosphärischer Musik und Nadja Loschkys tiefgehender Regie zu einem Opernerlebnis, das beklemmt und fasziniert zugleich.

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