Eigentlich ein Glücksfall. Da rauscht zwei Tage vor der Premiere der Stardirigent unter Vorschützung „künstlerischer Differenzen“ ab. Der Regisseur, es handelt sich um den zum Altmeister geläuterten Ex-Skandaluzzer Hans Neuenfels, kann sich über so viel Anerkennung nur freuen. Ob es am versilberten Lippenstiftriesendildo lag, in dem Jochanaan in der Berliner Staatsoper gefangen gehalten wird? Wohl kaum.
Auch der neu eingeführten Figur des Oscar Wilde (dessen „Salome“-Drama Richard Strauss veropert hatte) hängen zwar zwei montröse silberne Hoden aus der Hose. Doch auch das wird den großen Zorn Christoph von Dohnányis kaum heraufbeschworen haben. Dirigenten werden meist erst bei groben musikalischen Verstößen aktiv.
Also dürfte es am verweigerten „Tanz der sieben Schleier“ gelegen haben. Der nämlich wird bei Neuenfels nicht getanzt, sondern von Oscar Wilde (Christian Natter) mit Totenkopfmaske nur ausgeschritten (Choreographie: Sommer Ulrickson). Am Ende schlägt Salome ihre Zähne ins Fleisch des Propheten – ein liebeskannibalistisches Zitat aus Kleists „Penthesilea“.
Der Dirigent gibt auf
Wie dem auch immer sei, jedenfalls reiste Dohnányi zu spät – und dennoch überstürzt ab. Er zog der ganzen, übers Knie gebrochenen Produktion den Teppich unter den Füßen weg. Den nämlich hätte wohl nur er selbst knüpfen und liefern können. Als musikalisch strikter, auf strukturelle Logik pochender Dirigiergrande. Ohne ihn gerät der ganze Abend aus dem Lot.
Noch ein Detail: Warum am Ende nicht ein Kopf des Jochanaan auf dem Silbertablett präsentiert wird, sondern gleich 42 (auf einem Schachbrett hereingefahren): Wer weiß es?! Aus einem Programmheftgespräch mit Hans Neuenfels geht kein origineller, gar neuer Interpretationsansatz hervor. Provokative, aber doch neuenfelstypische Schlüsselreize – für die der Regisseur am Premierenabend keine Buhs kassierte – sollen eher verdecken, dass er zu „Salome“ nicht viel zu sagen hat.
Es ist gewiss schwer, eine gute Sängerin der Titelpartie zu finden. Die litauische Sopranistin Aušrinė Stundytė ist eine Eisprinzessin mit klirriger Höhe, schwacher Mittellage und nebulösem Textverständnis. Eine Salome on the rocks, die frostkalt lässt.
Herodes hat eine Schmalzlocke
Gerhard Siegel als vorlauter Herodes verfügt über joviale Gefährlichkeit und Schmalzlocke. Dröhnt gelegentlich aber zu tief. Am Besten: Marina Prudenskaya als paillettenbesetzte Salonschlange Herodias. Thomas J. Mayer singt einen achtbaren, recht heroischen Jochanaan. Nikolai Schukoff als Narraboth scheint mit Turban und Ohrring ein Abgesandter der schwulen Jecken des Kölner Karnevals. Die fünf Juden sind chaplineske Gauchos mit Girardi-Hut. Sie alle sitzen in Reinhard von der Thannens Schiffsbug fest. Und kommen nicht vom Fleck.
Über Dirigiereinspringer soll man nichts Schlechtes sagen. Dennoch findet der 24-jährige Thomas Guggeis – ein ehemaliger Barenboim-Assistent – aus einem aufgekratzten, dauerenervierten Trott nie wirklich heraus. Es fehlen Höhepunkte, Zeitinseln, Ruhephasen. Dies klingt, als hätte die Aufregung des Debütanten auf die ganze Berliner Staatskapelle übergegriffen; die ihre „Salome“ eigentlich kennt. Keine Sternstunde.
Es zeigt sich, eine wie fragile Angelegenheit selbst solch robusten Stücke sind. Dohnányi mag seine Differenzen mit dem Regisseur gehabt haben. Doch er hat daraus die falsche Konsequenz gezogen, ein ganzes Sängerensemble, ja mehr noch: ein ganzes Haus zu düpieren. Er schadet nachhaltig seinem eigenen Ruf. Der Abend, so wie er ihn zurückgelassen hat, ist verfahren. Daniel Barenboim im Publikum applaudierte nur knapp zwei Sängern. Und seinem Orchester. So schön die noch frische Beschäftigung des alten Hans Neuenfels mit dem Werk von Richard Strauss begann – seine „Ariadne“ war 2015 ganz schön: Diese „Salome“ ist es nicht.