Begehrte Urgroßmutter

Katrin Gerstenberger in „Die Sache Makropulos“ am Darmstädter Staatstheater. Foto: Martin Sigmund  Foto: Martin Sigmund
© Foto: Martin Sigmund

Ein eisiger Hauch weht aus dem Rang. Dort steht in der Mitte der ersten Reihe Katrin Gerstenberger, deren Stimme feine Charakterporträts zeichnen kann. Dieses Mal lässt sie...

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DARMSTADT. Ein eisiger Hauch weht aus dem Rang. Dort steht in der Mitte der ersten Reihe Katrin Gerstenberger, deren Stimme feine Charakterporträts zeichnen kann. Dieses Mal lässt sie den Sopran fahl klingen, wie aus dem Abseits, um von der inneren Kälte der Sängerin Emilia Marty zu erzählen. Aber am packenden Ende des Opernabends im Großen Haus des Darmstädter Staatstheaters wird sie alle Wärme und Intensität in den einzigen ariosen Ausbruch legen, den der Komponist Leos Janácek der Hauptrolle seiner Oper „Die Sache Makropulos“ gegönnt hat. Da hat sie das Ende vor Augen: Dem Leben ist die 1585 geborene Emilia schon lange abhandengekommen, erst mit der Sterblichkeit findet sie zum Gefühl zurück.

Vorerst aber zieht sie alle Register in einem unübersichtlichen Erbschaftsstreit. Man kann den Fall Makropulos kaum verstehen, in Eva-Maria Höckmayrs Darmstädter Inszenierung muss man es auch nicht. Denn indem die Regisseurin im ersten Akt nur Filmaufnahmen Emilia Martys zeigt, während Gerstenberger aus der Ferne singt, erzählt sie sinnfällig von dem Bild, das sich die subtil manipulierten Männer von dieser Frau machen.

Das passt glänzend zur Musik, wie Generalmusikdirektor Will Humburg sie mit dem aufmerksamen und reaktionswachen Staatsorchester realisiert. Schon die erst rhythmisch nervös vorwärtsdrängende, dann federnd beschwingte Einleitung könnte als Filmmusik bestehen. Später erzielen Humburg und sein Orchester raffinierte Klangeffekte, zeichnen kammermusikalische Transparenz, agieren immer eng am Bühnengeschehen entlang. Der feine Klangsinn trägt bei zur ausgezeichneten Verständlichkeit der deutschen Übersetzung, die in Darmstadt gesungen wird.

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Im ersten Akt verlässt sich Höckmayrs Inszenierung ganz aufs Video. Wie schon in ihren früheren Darmstädter Arbeiten („Freischütz“, „Tosca“) erweist sich Julia Rösler als Ausstatterin, die eine Inszenierungsidee aktiv mitdenkt. Sie lässt „Makropulos“ komplett auf einer Theaterbühne spielen, zwischen Kulissen und Scheinwerfern, immerhin geht es hier um eine Frau, die ihre Umgebung vor allem als Bühnenfigur fasziniert. Rösler hat ein geschickt gestaffeltes System von Projektionsflächen ersonnen. Mal blicken wir in die Anwaltskanzlei, in der die Geschichte beginnt, dann wieder leuchtet nur Emilias blonde Mähne im Gegenlicht, wenig später sind es irritierend unterschiedliche Schauspielerinnen, die als Emilia über die Bühne flimmern.

Die Frau ist nicht zu fassen, aber sie bringt alle Anwesenden durcheinander, auch die junge Sängerin Krista, die durch den Ruhm des Stars in eine Krise gerät; mit ihrem schön gefärbten Sopran hätte Xiaoyi Xu freilich keinen Grund zur Sorge. Die Männer sind nur Spiegelbilder ihres Blicks auf Emilia, entwickeln aber stimmlich starke Rollenprofile. Da legt David Lee als unglücklich verliebter Janik tragischen Schmelz in die Stimme, wenn er im Ringen um Emilia von seinem Vater ausgestochen wird, Stefan Adam zeigt einen Patriarchen, dem Emilias Kälte die Selbstsicherheit austreiben wird. Krzysztof Szumanski ist stimmpräsent der Jurist Kolenaty, Michael Pegher mit beweglichem Tenor sein Kanzleigehilfe Vitek, Thomas Piffka beglaubigt auch stimmlich die Achterbahnfahrt der Gefühle, die Albert Gregor durchmacht, der erkennt, dass er die eigene Ur-Ur-Ur-Großmutter begehrt hat. Und Andreas Wagner karikiert mit Würde den senilen Hauk-Sendorf, der kraft seines Alters die Chance hat, ein zweites Mal von Emilia verzaubert zu werden.

Kräftiger Beifall für diesen Abend

Überhaupt lebt dieser mit kräftigem Beifall aufgenommene Abend von der Genauigkeit der Erzählung, die über gut zwei Stunden das Interesse fesselt – vielleicht gerade deshalb, weil Höckmayr das Geheimnis Emilia Martys gar nicht auflöst. Und sie lässt einen Rest des Zweifels an der Geschichte vom Lebenselixier, die Marty am Ende auftischt, müde geworden von 337 Lebensjahren, erschöpft von der Ödnis, die sie empfindet. Den erhofften Tod findet sie nicht: Marty zieht sich zurück ins Bühnenbild und endet als Künstler-Denkmal.